Gerade habe ich meine Leseliste für 2020 aktualisiert. Es ist traurig, ich bin kaum zum Lesen gekommen. Nicht, weil ich keine Zeit gehabt hätte, sondern einfach weil ich ab Anfang März kaum die notwendige Ruhe gefunden habe. Lesen ist für mich eine Beschäftigung, die einerseits natürlich Zeit, aber auch Ruhe und Konzentration braucht. Zeit hätte ich gehabt, Ruhe und Konzentration waren schwierig.
Ich habe in einem Tweet vor einiger Zeit geschrieben, daß Unsicherheit zu meinem Berufsleben gehört und ich normalerweise gut damit umgehen kann. Aber plötzlich war da zuviel Unsicherheit. Von einem Tag auf den anderen war nicht abzusehen, ob beziehungsweise in welchem Ausmaß ich überhaupt noch Aufträge und damit Einnahmen habe. Gleichzeitig fielen alle Möglichkeiten weg, die ich sonst in schwierigen Zeiten nutze, um auf andere Gedanken und Ideen zu kommen. Theater und Museen waren geschlossen, Ausflüge undenkbar. Egal wohin ich schaute, überall stand sichtbar oder unsichtbar „Corona“.
Ich habe stundenlang Nachrichten und Fernsehsendungen zum Thema angeschaut, Berichte gelesen, den jeweils aktuellen Stand verfolgt. Es hat mir auch vorher immer geholfen mit einem Problem umzugehen, wenn ich möglichst viel weiß und mir den schlimmsten Ausgang vorstellen kann. Die wenigen Male in meinem Leben, in denen ich tatsächlich auf etwas Gutes vertraut (und auch gehofft) habe, waren die Momente in denen ich am tiefsten verletzt wurde und am meisten gelitten habe. Gleichzeitig raubte mir die Fokussierung auf die Nachrichten – ohne Möglichkeit der Ablenkung, ohne Möglichkeit mit anderen Menschen vertraulich darüber zu sprechen – auch jeden Funken von „Kreativität“. Ich kam mir vor wie ein Kaninchen, das gebannt auf die Schlange „Corona“ starrt, vollkommen hypnotisiert und bewegungsunfähig. Irgendwie kam mir die Situation vor wie „Die Todesliste des Bären“ – nur daß ich weder die Kraft noch den Mut hatte, mich von dem Thema abzuwenden und irgendetwas anderes zu machen.
In der Zeit nahm ich viele Bücher in die Hand, öffnete sie und legte sie nach einigen Seiten wieder weg. Manchmal paßten sie thematisch nicht, manchmal wurde ich nach wenigen Zeilen unruhig und suchte online nach Neuigkeiten. Manchmal trieb ich im Strudel der negativen Gedanken (die ich sonst nur aus dem privaten Bereich kenne). Einziger Lichtblick waren die langen Spaziergänge, die ich in dieser Zeit gemacht habe. Ohne Einkehr, ohne Rückfahrt mit dem Bus – einfach nur ein langer Rundweg, der mich aus dem Haus und weg von Fernsehen, Internet und Twitter brachte. Das war zumindest immer eine willkommene und gute Unterbrechung. Aber es reichte nicht aus, um die Ruhe zum Lesen zu finden. Zu viel war unsicher, zu wenig gut und zu wenig Zuversicht vorhanden, daß „alles“ gut werden könnte. Nein, auch jetzt kann nicht alles gut werden, das ist einfach nicht möglich. Und auch jetzt ist die Unsicherheit nicht gebannt, im Gegenteil – sie hat sich nur anders „gekleidet“. Aber zumindest habe ich die letzten Wochen irgendwie überstanden und das, ohne meine (aufgrund der letzten Jahre schon mageren) Rücklagen aufzubrauchen.
Irgendwann um Ostern herum konnte ich meinen Medienkonsum einschränken. Es war nicht mehr wichtig, jeden Tag die Nachrichten zu verfolgen, jeden Tag informiert zu sein. Dieser Verzicht schenkte mir etwas mehr Ruhe und tatsächlich die Möglichkeit wieder etwas mehr zu lesen. Weniger als in den meisten Vorjahren (2017 und 2018 waren bisher die negativen Ausreißer), aber doch mehr als in den Vorwochen. Es war der Zeitpunkt ein paar dickere Hardcoverbücher anzugehen – etwas, das ich länger nicht gemacht habe. Wenn ich unterwegs bin, habe ich sonst fast immer Taschenbücher dabei (und meist mehrere, damit ich – abhängig von meiner Stimmung – auswählen kann, was ich lese).
Nach Ostern gab es dann neue Aufgaben, mit denen ich mich beschäftigen konnte und durfte. Die ersten Kurse fanden online statt und ich war ziemlich gut damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich die jeweiligen Inhalte „interaktiv“ gestalten kann. Ich habe zu diesem Thema viel gelesen, nachgedacht, nach Tools gesucht und relativ viel Zeit in die Vorbereitung der jeweiligen Kurse gesteckt. Immerhin etwas, wo ich das Gefühl hatte, etwas Sinnvolles und Positives zu tun. (Ja, es gab in der ganzen Zeit auch normale Aufträge. Aber halt deutlich weniger als sonst.)
Die Tage vergingen in einem merkwürdig gleichförmigen Ablauf von Schlafen, Aufwachen, Kochen, Essen, Schlafen – irgendwo dazwischen mit „Arbeitsinseln“, „Informationsinseln“, Spaziergängen und dem kurzen Griff nach dem einen oder anderen Buch. Der Stapel der angefangenen Bücher war selten so hoch wie im Moment. Und meistens schaue ich den Stapel nur an und greife dann doch nach einem völlig anderen Buch, um es nach wenigen Seiten auf den Stapel zu legen.
Für mich ist es keine gute Lesezeit. Mir fehlt ganz eindeutig das Gefühl, das irgendetwas irgendwann gut werden könnte und aufgrund meiner Krisenerfahrungen der letzten Jahre fehlt mir auch die Zuversicht, daß es sich tatsächlich zum Positiven ändern könnte. Nichts ist so hartnäckig wie die Krisenerfahrung, die man in seiner Seele trägt.
Euch wünsche ich, daß Ihr die Zeit, die Ruhe und die Zuversicht habt, um Schönes zu erleben, schöne Momente zu genießen und Euch von guten Büchern verzaubern zu lassen.