Der schleichende Verfall – 31.08.2017

Der Monat August zog dahin. Ich las meine Bücher über das Sterben und die palliative Medizin. Immer mal wieder weinte ich, wenn ich allein war – nur der Bürocomputer war der Zeuge meiner Tränen. Es war dieses Wissen, daß der Abschied naht – ohne zu wissen wann und wie.

Es war nicht alles schlecht in dieser Zeit. Im Gegenteil! Aber es war auch keine einfache Zeit. Täglich wurde meine Mutter ein bißchen schwächer, mit jedem Tag nahmen ihren Möglichkeiten ab. Zu Pfingsten waren wir noch von der Düsseldorfer Innenstadt nach Kaiserswerth gewandert – eine wunderschöne Strecke am Rhein entlang. Im August war an so etwas nicht mehr zu denken. Wir machten einen Spaziergang Richtung Neviges, den wir nach der Hälfte (am Bahnhof Rosenhügel) abgebrochen haben, weil es ihr zuviel wurde.

Es war auch die Zeit kurz vor der Bundestagswahl. Wählen war meiner Mutter immer sehr wichtig. Meistens sind wir gemeinsam zum Wahllokal gegangen. Aber in diesem Jahr? Was, wenn sie vor der Wahl sterben würde? Es mag unsinnig anmuten, daß ich in der Situation über solche Fragen nachgedacht habe. Aber vor einem Jahr war mir das wichtig – unglaublich wichtig. Natürlich haben wir dann Briefwahlunterlagen beantragt.

Ende August zeigten sich auch neue Beschwerden. Der rechte Arm fing an anzuschwellen, der Beginn eines Lymphödems. Mit ein paar Übungen ließ sich dies sogar in den Griff bekommen und so habe ich dann ganz kurzfristig beschlossen, zur Netzpolitikkonferenz in Berlin zu fahren (am 01.09.2017).

Es war eine Zeit, in der das Wegesende zwar schon erkennbar war, die Bewegung dahin aber so langsam war, daß man sie kaum wahrnehmen konnte. Eine Zeit des schleichenden Verfalls. Und damit auch eine Zeit, mich auf das vorzubereiten, was da noch kommen würde……

Nachtgedanken…..

Ich bin gerade ein paar Tage in Wittenberg, der Lutherstadt in Sachsen-Anhalt. Gestern war die sogenannte Erlebnisnacht. Aus meiner Sicht ein Zufall, denn mir war das bei der Buchung nicht bewußt. Ich habe gestern einige spannende „Events“ im Rahmen dieser Erlebnisnacht besucht, mein absoluter Höhepunkt war die (ganz unscheinbar im Programmhefte vermerkte) Nachtführung in der Stadtkirche.

Ich habe in meinem Leben schon viele Kirchen besucht oder besichtigt. Mit oder ohne Führung, allein oder mit anderen, aus kulturellen Gründen aber auch zum (einsamen) Orgelüben. Ich habe einen „netten Rundgang“ durch die Kirche erwartet, aber es kam anders, ganz anders.
Kurz vor der festgelegten Zeit (23.30 Uhr) waren schon einige Leute in den hinteren Bänken der Kirche verteilt. Auch ich habe mich dort hingesetzt, auf meinem Tablet ein paar Tweets gelesen und gewartet. Um 23.30 Uhr bat uns ein etwas älterer Mann in die vorderen Reihen. Technisch etwas ungelenk und langsam begann er alle Lichter in der Kirche (bis auf einen Raum, in dem sich die Künstler des Abends noch umzogen) auszumachen. Während nach und nach Licht für Licht erlosch, sprach er davon, daß man das Helle nur vor dem Dunklen sehen kann. Und plötzlich war es (bis auf das Licht aus dem kleinen Nebenraum, das durch eine Glastür fiel) stockdunkel. Ein faszinierender Moment. Ich habe noch nie während einer Führung in einer stockdunklen Kirche gesessen und mich so sehr auf die Stimme, die Worte und den Raum an sich konzentriert. Ja, genau das betonte unser Kirchenführer auch. Ganz langsam machte er dann im ältesten Teil der Kirche etwas Licht an (alles mit einem Tablet in seiner Hand) und zeichnete mit immer mehr Licht die Baugeschichte der Kirche nach.

Das Licht ging wieder aus und kurz danach war der wunderbare Cranach-Altar beleuchtet. Man muß sich das vorstellen: die Kirche liegt in fast völliger Dunkelheit, nur der Cranach-Altar ist beleuchtet und leuchtet mit seinen wunderbaren Farben.

Das Licht ging wieder aus und ich hörte unseren Kirchenführer im Dunklen zur linken Seite der Kirche gehen. Plötzlich erleuchtete ein Scheinwerfer von unten ein Menschenantlitz hoch oben auf einer Säule – der Mensch, der manchmal dem Schlimmen und Bösen gegenübersteht und Trost sucht (wo auch immer, nicht notwendigerweise in der Kirche). Und plötzlich richtete sich der Scheinwerfer auf die Säule auf der gegenüberliegenden Seite. Genau gegenüber dem Menschenantlitz hing dort eine Fratze – das Sinnbild des Bösen oder Schlimmen. Wenn der Mensch, dem es nicht gut geht, seinen Blick auf das Schlimme oder Böse fokussiert (liegt ja genau gegenüber), dann kann er keinen Trost finden. Der Trost (in diesem Moment sinnbildlich durch den Altar vertreten) liegt gerade nicht im Fokus des Menschen. Licht aus. Aber am tiefsten Punkt der Nacht beginnt der neue Tag.

Das Licht ging wieder an, die knapp halbstündige Führung war vorbei. Bei mir hat diese Art der Führung ein Gänsehautgefühl hinterlassen. Ich war unglaublich beeindruckt von der Atmosphäre und vom Spiel mit Licht und Dunkel in Verbindung mit sehr passenden Worten.

Wissen – am 08.08.2017

Wann geht Ahnung in Wissen über? Wann wird aus dem Hin- und Herschwanken zwischen Hoffnung und Angst traurige Gewißheit?

Für mich war der 08.08.2017 der Tag dieser Gewißheit. Die „Einschläge“ waren vorher immer näher gekommen. Stark vergrößerte Lymphknoten am Hals, eine neue Chemo mit neuen Nebenwirkungen und einem Schlaf, der nicht mehr erholsam war, ein stark verkleinertes Auge, weil die Lymphknoten sich hier schon auswirkten. Schon am 4. August hatte ich mir Bücher zum Thema Sterbebegleitung bestellt. Ich wollte vorbereitet sein auf das, was da irgendwann kommen würde. H. Müller-Busch und Gian Domenico Borasio wurden meine heimlichen Begleiter. Heimlich, weil ich mich erst einmal mit diesem Thema allein auseinandersetzen wollte, nicht weil ich mit meiner Mutter nicht darüber sprechen konnte.

Irgendwie war immer noch Hoffnung da. Hoffnung, daß die neue Chemo doch noch wirkt, daß es noch einmal eine Verbesserung gibt, Hoffnung auf ein kleines Wunder. Ja, was wäre der Mensch ohne Hoffnung?

Doch manchmal sind es ganz unscheinbare und völlig unabhängige „Zeichen“, die uns Gewißheit geben – selbst da, wo uns die Gewißheit weh tut….. Es war der Blick auf die Augustausgabe der Zeitschrift „brand eins“ mit dem Schwerpunkt „Loslassen„, die mir diese Gewißheit gab. Ich las den Titel und ich wußte sofort, was mein „Loslassen“ war. Es war ein sehr deutlicher Moment des Bewußtwerdens. Kein leichter Moment, weiß Gott nicht. Und in der Erinnerung an diesen Moment rinnen mir noch einmal die Tränen über das Gesicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie oft ich in dieser Zeit weinend an meinem Schreibtisch saß, wieviele Gespräche ich unter Tränen geführt habe, wie oft ich die Tränen vor meiner Mutter nur mühsam zurückhalten konnte.
Trotzdem möchte ich diesen Moment nicht missen. Es war traurig und schwer, diesen Moment zu erleben. Es war schön und richtig, meine Mutter auf dem Weg zum Tod begleiten zu können. Das Wissen, daß der Tod „vor der Tür steht“ und die frühzeitigen Tränen haben mir die Kraft gegeben, für meine Mutter bis zum letzten Moment da zu sein, die schönen Momente zu genießen und die traurigen Momente zu tragen. Dafür bin ich sehr dankbar. Und deswegen ist der 08.08. – bei aller Traurigkeit der Erinnerung – auch ein guter Tag!