Allein oder einsam?

Gerade eben habe ich in diesem Blog die Kategorie „allein oder einsam“ eingerichtet. Es ist ein Thema, das mich schon länger beschäftigt. Die Schlagzeilen rund um die neueste Buchveröffentlichung von Herrn Spitzer und die Aktivitäten rund um Keinerbleibtallein haben mich daran erinnert. Das Thema ist nicht nur für mich wichtig, es ist auch ein gesellschaftlich wichtiges Thema. Großbritannien hat für dieses Thema sogar ein Ministerium geschaffen (witzigerweise steht in vielen deutschen Überschriften „Ministerium für Einsamkeit“ – ein „gegen Einsamkeit“ wäre an dieser Stelle wohl treffender).

Die Frage, ob man sich in einem bestimmten Moment oder generell allein oder einsam fühlt, ist natürlich sehr subjektiv und hat meines Erachtens sehr viel mit der persönlichen Grundausrichtung zu tun.

Die eigene Ausrichtung der Persönlichkeit
In den letzten Jahren habe ich (zum Teil freiwillig, zum Teil auch „unfreiwillig“) viel über mich und meinen Blick auf die Welt gelernt. Ich habe dadurch viele Entwicklungen der letzten Jahre besser verstanden. Es gibt zwei Aspekte, auf die ich in diesem Zusammenhang eingehen möchte.

1. Die Unterscheidung in Ich-Du- und Ich-Es-Typen
Während meiner Mediationsausbildung bin ich auf die Bücher von Bernd Schmid gestoßen. Schmid unterscheidet die Menschen in Ich-Du-Typen und in Ich-Es-Typen. Dabei handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Arten, Beziehungen mit Menschen an- beziehungsweise einzugehen. Ein Ich-Du-Typ definiert sich unmittelbar über die Beziehung zum anderen Menschen – zum Beispiel über Fragen nach Vertrauen und Sympathie. Erst wenn diese Beziehungsebene positiv geklärt ist, sind Ich-Du-Typen bereit, etwas gemeinsam zu unternehmen (ein gemeinsames Projekt zum Beispiel). Ein Ich-Es-Typ definiert sich über ein gemeinsames Thema, eine gemeinsame Aufgabe oder gemeinsame Interessen. Erst wenn in dieser Hinsicht Gemeinsamkeiten da sind, kann sich für Ich-Es-Typen eine persönlichere Beziehung entwickeln. Der Wegfall des gemeinsamen Themas/der gemeinsamen Interessen kann jedoch schnell zum Wegfall beziehungsweise zum Einschlafen der persönlichen Beziehung führen.
Dieser Text war für mich hochspannend. Ich habe mich sofort als Ich-Es-Typ erkannt und ich konnte auch nachvollziehen, warum Kontakte nach Ende eines Projektes oder einer Zusammenarbeit einfach nicht mehr „funktionierten“.

2. Nähe und Distanz nach dem Riemann-Thomann-Kreuz
Den zweiten Aha-Effekt hatte ich beim Riemann-Thomann-Kreuz. Ich möchte hier jetzt nur auf die Achse „Nähe – Distanz“ eingehen. Wir Menschen tragen beide Aspekte in uns – jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Sowohl Nähe als auch Distanz haben ureigene Stärken und Schwächen, beinhalten bestimmte Wünsche und bestimmte Ausdrucksformen. Nähe beinhaltet als Stärke zum Beispiel Einfühlungsvermögen und Geduld, als Ausdruck Bescheidenheit, Distanz beinhaltet demgegenüber beispielhaft Entschlossenheit, Konfliktfähigkeit und als Ausdruck Kontaktschwierigkeiten. Auch hier habe ich schnell erkannt, daß ich meist nach Distanz strebe – ich erkenne mich in den Stärken „Entschlossenheit“ und „Konfliktfähigkeit“, aber durchaus auch in den „Kontaktschwierigkeiten“.

Allein….
Es gehört für mich zum Streben nach Distanz (nach dem Rieman-Thomann-Modell), daß ich gut alleine sein kann. Ich habe während meiner Referendarzeit in Belgien mit einer Kollegin ein kleines Büro geteilt. So sehr ich diese Kollegin auch mochte (wirklich!), so schwierig fand ich es, in einem gemeinsamen Büro zu arbeiten. Die Arbeit in einem Großraumbüro wäre für mich wohl ein „Katastrophenszenario“.
Ich genieße es, viele Dinge alleine zu machen. Lesen ist da meine Lieblingsbeschäftigung, wobei ich mich in vollen Bussen oder Zügen relativ problemlos in Bücher und Zeitungen vertiefen kann.
Auch in Museen oder Ausstellungen gehe ich durchaus gerne alleine. Natürlich ist es schön, eine Ausstellung zusammen mit anderen zu besuchen und danach darüber zu diskutieren. Aber es ist für mich keine Bedingung, um einen Museums- oder Ausstellungsbesuch zu genießen. Für die Zeit im Museumscafé habe ich ohnehin immer ein gutes Buch dabei …..
Auch Spaziergänge, Wanderungen und Ausflüge unternehme ich gerne alleine – vieles sogar recht spontan. Beim Theaterbesuch fängt es an, schwierig zu werden. Ins Theater an sich gehe ich auch alleine, aber ….

oder einsam?
…. die Pausen finde ich manchmal bedrückend. Es ist nicht so wahnsinnig schön, alleine in einer Theaterpause irgendwo herumzustehen – egal ob mit oder ohne Pausengetränk.
Noch schwieriger finde ich oft Networkingveranstaltungen und ja, Barcamps gehören dazu. Relativ häufig kommt es vor, daß ich zu Veranstaltungen gehe, bei denen ich niemand kenne. Es gibt dann viele Tische/Stehtische und (da ich ja niemanden kenne) stelle ich mich irgendwo hin. Und bleibe da stehen. Allein (oder in dem Moment wirklich einsam!). Es mag sein, daß die meisten Menschen das so nicht kennen, für mich stellen diese Momente häufig gedankliche Hürden dar – da treffen sich dann meine persönlichen Ausrichtungen „Ich-Es-Typ“ und „Distanz“ auf eher unangenehme Weise. Es gibt Tage, an denen ich das überspielen und mit etwas Überwindung andere „Alleinherumstehende“ ansprechen kann, es gibt aber auch die anderen Tage, wo ich die Zeit bis zum Anfang der eigentlichen Veranstaltung (Vortrag, Vorstellungsrunde und Sessions beim Barcamp, was auch immer) nur schwer ertrage.

Was ich mir wünsche?
Es ist für manche Menschen nicht ganz so einfach, allein zu einer Veranstaltung zu gehen. Gerade bei Vernetzungsveranstaltungen geht es ja darum, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich freue mich immer, wenn sich jemand zu mir stellt oder mich irgendwie in ein Gespräch mit einbezieht. Und wenn ich das (an den kommunikativ guten Tagen) mit anderen Menschen mache, hat das auch immer funktioniert. Was ich mir noch wünsche? Daß Veranstalter/Veranstalterinnen Menschen einfach kurz miteinander bekannt machen. Ein „Kennen Sie eigentlich schon ….“ bricht das Eis und kann (zumindest für mich) wahre Wunder wirken!

Über das Sterben reden?

Ja, unbedingt! Man könnte fast meinen, daß ich mich im Moment nur noch mit dem Thema Krankheit und Tod beschäftige. Das ist keineswegs der Fall. Aber es gibt Momente, wo ich mich an Gespräche der letzten Jahre erinnere und dies als Anlaß empfinde, über diese Themen zu schreiben. Gestern war es der Tatort am Sonntagabend, heute ist es der RTL-Bericht „Sterben gehört zum Leben dazu“ in dem Sabine Dinkel und ihre Sterbeamme Claudia Cardinal über das Leben und das Sterben sprechen. Ich habe mir das Video gerade angeschaut und finde es aus vielen Gründen wunderbar.

Was ist wenn ….?
Vor vielen Jahren (Advent 1994) habe ich zum erstenmal bewußt mit meiner Mutter über das Thema Tod gesprochen. Also bewußt in dem Sinne, daß es nicht um den Tod anderer Menschen ging, sondern um ihren eigenen Tod. Der Einstieg war banal und trotzdem ein guter Auftakt. Wir saßen gemeinsam am adventlich geschmückten Frühstückstisch. Meine Mutter sollte weniger Tage später an der Schilddrüse operiert werden. Eine Standardoperation, bei der nur selten gravierende Probleme auftauchen. Aber irgendwie war da der Gedanke „was wäre wenn….“. Ich habe an diesem Morgen meine Mutter nach den Rezepten für meine Lieblingsspeisen gefragt. Sie war zunächst erstaunt, hat dann aber verstanden, worum es mir ging und wir hatten plötzlich ein Gespräch über den Umgang mit dem Tod. Wir wußten jetzt beide, daß wir über dieses Thema sprechen können. Die Schilddrüsenoperation ein paar Tage später verlief problemlos und ja, ein paar Rezepte habe ich vorher auch bekommen.

Viele Jahre später (2012) erkrankte meine Mutter an Krebs. Es war in diesem Moment nicht so harmlos, wie die Schilddrüsenoperation von damals. Aber wir wußten, daß wir über das Thema Sterben und Tod sprechen können und das haben wir auch gemacht. Wir haben im Laufe der Zeit über Vollmachten und Patientenverfügung gesprochen, über Behandlungsmethoden, die sie akzeptiert oder ablehnt, über ihre Vorstellungen von ihrer Beerdigung. Ich hatte unter meinem Schreibtisch einen Order stehen, in dem ich die Dokumente und Wünsche aufbewahrt habe. Als der Tag „X“ gekommen war, habe ich den Ordner hervorgezogen und war vorbereitet. Ich kannte ihre Wünsche (Rasenreihengrab), ich wußte, wen ich informieren sollte, ich wußte sogar, welches Lied sie sich gewünscht hat. Es hat mir wahnsinnig geholfen, daß ich in dem Moment der Traurigkeit immer das Gefühl hatte, daß ich jetzt genau das mache, was sie sich gewünscht hat.

Aber das Leben und das Lachen nicht vergessen!
So wichtig es ist, über das Sterben und den Tod zu reden, so wenig sollte man das Leben und das Lachen vergessen. Meine Mutter war immer ein sehr fröhlicher, humorvoller und aktiver Mensch. Das hatte sich durch die Krankheit nicht geändert. Wir haben in den Jahren viel gelacht, viel unternommen und viel zusammen genossen. Ganz wichtig war es meiner Mutter, daß die Krankheit in unserem Alltag nicht ständig im Vordergrund steht. Ganz am Anfang ihrer Erkrankung haben wir daher eine Vereinbarung getroffen: sie durfte mich jederzeit auf das Thema Krankheit ansprechen – zum Beispiel wenn sie Fragen hatte, wenn es ihr nicht gut ging, wenn sie Nebenwirkungen von der Chemo hatte. Ich durfte vor Terminen natürlich fragen, ob sie etwas braucht (ausgefüllte Formulare, Fragen sammeln, sie begleiten), ansonsten hat sie bestimmt, ob und wann wir über die Krankheit sprechen. Wir sind mit dieser Vereinbarung gut „gefahren“. Es gab – trotz Chemos und Nebenwirkungen – einen normalen Alltag – mit vielen Späßen, viel Gelächter, schönen Gesprächen über tausend Themen, schöne Spaziergänge und Ausflüge. Das sind alles Dinge, die ich heute in meiner Erinnerung trage und die mich tragen.
Natürlich gab es auch weniger schöne Tage. Es gab Tage, an denen es meiner Mutter nicht gut ging. Es gab Tage, an denen sie oder ich völlig unabhängig von der Krankheit schlechter Stimmung waren, es gab Tage, an denen wir nicht genug Geduld miteinander hatten. Aber das alles ist normal und diese Normalität war für meine Mutter unglaublich wichtig.

Die Ambivalenz aushalten!
Ich mußte beim Schreiben gerade an diesen Satz denken, den Goethe Faust in den Mund legt: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!“ Der schöne Augenblick beinhaltet immer schon das Vergehen dieses Augenblicks und die Verwandlung in etwas anderes, nämlich in Erinnerung, und niemals war mir das bewußter als in den letzten Jahren. Über jeden schönen Ausflug habe ich mich gefreut und ihn genossen und oft war da diese kleine Stimme, die fragte „wird es ein nächstes Mal geben“? Gerade in den letzten Monaten und Wochen fiel es mir zunehmend schwerer diese Ambivalenz auszuhalten. Oft schossen mir in besonders schönen Momenten oder in Gesprächen mit anderen Menschen die Tränen in die Augen. „Nicht weinen“ hat meine Mutter oft gesagt – ihr war das wichtig, vor allem, weil meine Tränen ihren Weg noch schwieriger machten. Tief durchatmen und wieder lächeln – das war nicht immer einfach, aber es hat mir auch in der schwierigen Zeit viele wunderbare Erlebnisse und Momente mit meiner Mutter beschert!

Wenn ich heute aus dem Fenster auf den Garten schaue, dann sehe ich die Blumen, die meine Mutter mit mir zusammen im September als Blumenzwiebeln eingepflanzt hat. Es hat uns beiden Spaß gemacht und es ist schön, in diesem Moment mit einem Strauß kleiner Osterglocken vor Augen an sie zu denken.

Paßt das für jeden?
Nein, das paßt nicht für jeden. Menschen sind sehr unterschiedlich und das ist gut so. Ich fand es aber in dem Film wunderbar, daß die Sterbeamme gerade nicht die traurige Seite in den Vordergrund stellt. Diese Seite beherrschen wir Menschen meistens schon alleine sehr gut. Es ist oft viel schwieriger in schwierigen Moment auch das Schöne, das Leichte und das Fröhliche zu sehen und zu leben. Manchmal gehen diese Momente auch einfach im Alltag unter – wie schön, wenn es dann Menschen gibt, die einen an die Hand nehmen und begleiten und die trotzdem die Ambivalenz der Gefühle aushalten.

Ich selbst denke jetzt intensiver über mein Leben und mein – irgendwann kommendes – Sterben nach. Dieses Nachdenken ist wichtig, weil es mir gleichzeitig die Schönheit des Lebens aufzeigt. Es ist wie mit einer Blume. Sie wächst heran, blüht und irgendwann ist sie verblüht. Das Verblühen gehört zum Kreislauf des Lebens und das ist gut so. Aber die Blütezeit genießen solange sie dauert, das ist die wunderbare Aufgabe, die ich jetzt habe!

Gestern im Fernsehen …. und eine Erinnerung an 2017

Es ist selten, daß mich eine Sendung im Fernsehen wirklich tief berührt oder gar aufwühlt. Gestern war so ein Tag und ich meine den Tatort „Im toten Winkel“. Der eigentliche Krimi war fast unbedeutend, wirklich im Vordergrund standen ganz andere Themen: schwer kranke Menschen und ihre sie pflegenden Angehörigen.

Ich habe im letzten Jahr einen sehr kleinen und (glücklicherweise kurzen) Einblick in das Leben pflegender Angehöriger bekommen. Meine Mutter ist im Frühsommer 2012 an Brustkrebs erkrankt. Es war leider sehr früh klar, daß eine dauerhafte Heilung nicht möglich ist. Aber die Behandlungen waren in den ersten Jahren immer wieder so erfolgreich, daß sie längere Zeiten ohne Chemotherapie verbringen konnte. Ab Sommer 2016 war das anders und die ununterbrochene Chemo war schon belastend – körperlich aber auch seelisch. Ein letzter Chemoerfolg war meiner Mutter Anfang 2017 vergönnt – eine Chemo schlug wieder an und ihr ging es noch einmal richtig gut. Aber sie hat wohl auch schon gemerkt, daß sich ihr Ende nähert. Ich erinnere mich noch daran, daß ich Anfang Juli von der IGA in Berlin Pflanzkugeln mit bienenfreundlichen Blumen mitgebracht habe. Sie hat sich gewünscht, diese Kugeln sofort einzupflanzen – weil sie ja nicht wisse, ob sie das nächste Jahr noch erleben werde. Natürlich haben wir die Pflanzkugeln gepflanzt und uns bis in den späten Herbst an den immer wieder neuen bunten Blumen erfreut.

Weniger erfreulich waren anderen Entwicklungen. Ab dem Frühsommer wirkte die bis dahin erfolgreiche Chemo nicht mehr. Eine neue Chemo stand ab Anfang August an und irgendetwas war anders. Ich kann gar nicht erklären, was es war – aber mir war plötzlich sehr bewußt, daß meine Mutter sich dem Tod nähert. Natürlich habe ich noch gehofft, daß die neue Chemo doch noch wirkt, aber es war eine andere Art Hoffen als in den Monaten und Jahren zuvor. Mitte September ging es meiner Mutter schlagartig schlechter. Sie hatte sehr viel Kraft verloren, statt der langen Spaziergänge, die wir noch im Juni/Juli gemacht hatten, waren nur noch kurze Wege möglich. Ende September brachte eine andere Chemo eine kurzzeitige Verbesserung – sie hatte wieder etwas mehr Kraft und konnte wieder besser sprechen (die Lymphknoten am Hals waren leider auch betroffen). Leider vertrug sie diese Chemo nicht und uns war ab Mitte Oktober beiden klar, daß ihr Tod nur noch eine Frage der Zeit war.

Emotional war das für uns beide eine sehr schwere Zeit. Es war für meine Mutter schrecklich zu erleben, wie sie täglich Kraft verlor und normale Dinge ihres Alltags nicht mehr machen konnte. Sie sprach in der Zeit oft davon, daß man ein Tier nicht so leiden lassen würde wie einen Menschen. In dieser Zeit hat sie sich auch telefonisch von vielen Menschen verabschiedet Für mich war es schwer, zu sehen wie sehr sie unter ihrem Verfall leidet und auch ihren Verfall mitzuerleben, ohne ihr wirklich helfen zu können. Ich habe oft in meinem Büro gesessen und geweint. Gleichzeitig habe ich mir bewußt sehr viel Zeit genommen, um mit meiner Mutter zusammen zu sein – noch nie in meinem Leben habe ich so viele Rosamunde-Pilcher-Filme und andere Liebes- und Heile-Welt-Filme gesehen. Sie mochte solche Filme und mir war es nur wichtig, Zeit mit ihr zu verbringen.

Tag für Tag wurde meine Mutter schwächer und ab Mitte November wurde es für sie richtig schwierig. Aufgrund von Ödemen im Arm- und Halsbereich konnte sie ihre Hand kaum noch bewegen, sie litt unter Verspannungen und sie hatte Atemnot. Sie wollte dann ins Krankenhaus gehen, doch ich habe sie davon überzeugt, daß es besser wäre die „Spezialisierte ambulante Palliativversorgung“ (SAPV) einzuschalten. Am nächsten Tag (es war der 22. November) ging sie deswegen zu ihrem Hausarzt. Ich war mehr als überrascht – positiv überrascht – daß der SAPV sich noch am selben Vormittag telefonisch bei mir meldete und für den frühen Nachmittag einen Termin vereinbarte. Das Gespräch war sehr gut und noch am selben Abend wurden für meine Mutter von der Apotheke Morphintropfen gegen die Atemnot geliefert. Es war ein unglaublich gutes Gefühl, jemanden im Boot zu haben, der sich – kompetent und gleichzeitig sehr liebevoll – um meine Mutter kümmerte. Jeden Tag kam jemand vom SAPV-Team, um zu sehen, wie es meiner Mutter ging. Wir bekamen am nächsten Tag einen großen „Notfallbeutel“ mit Medikamenten für Notfälle (zum Beispiel Lutschtabletten gegen Angstzustände). Ich wurde in die Gabe der Morphintropfen (Dosis, Zeitraum, Steigerung im Bedarfsfall) eingewiesen und mir wurden die wichtigsten Medikamente aus dem Notfallbeutel vorgestellt. Heute ist das so weit weg, daß ich mich an die einzelnen Medikamente nicht mehr erinnere. Zusätzlich bekamen wir eine Notfalltelefonnummer unter der wir Tag und Nacht jemanden erreichen konnten. Es war ein unglaublich gutes Gefühl, in Notfällen auf jemand zurückgreifen zu können. Wir haben das glücklicherweise nicht gebraucht. Durch die Atemnot waren die Nächte zwar schwierig (meine Mutter hatte starke Angst vor der Atemnot) – aber mit einer leicht erhöhten Dosis Morphintropfen und einmal auch einer Lutschtablette gegen die Angst haben wir das hinbekommen. Gleichzeitig haben sich die Menschen vom SAPV auch um die „bürokratischen“ Dinge gekümmert – Hospizantrag (das war der Wunsch meiner Mutter) vorbereitet, mich beim Antrag wegen Einstufung in eine Pflegeklasse unterstützt, um das (glücklicherweise nicht mehr notwendige Pflegebett) gekümmert – es war jemand da, der sich mit mir wirklich um meine Mutter gesorgt hat.

Am 1. Dezember ist meine Mutter ins Hospiz gegangen und dort ist sie am Morgen des 5. Dezember eingeschlafen. Objektiv betrachtet, war es eine sehr kurze Zeit, in der meine Mutter meine „Pflege“ benötigte. Auch die Zeit der emotionalen Betroffenheit war (von August bis Dezember) relativ kurz. Insofern ist es natürlich vermessen, wenn ich mich jetzt zum Thema „pflegende Angehörige“ äußere. Aber in dieser kurzen Zeit sind mir schon einige Dinge aufgefallen, die auch gestern im Tatort eine Rolle spielten. Ich habe in der kurzen Zeit den Schmerz kennengelernt, wenn man jemandem, der einem sehr nahe ist, so gar nicht helfen kann. Ich habe die Überforderung und Hilflosigkeit kennengelernt, wenn man nicht weiß, was man tun soll (nächtliche Atemnot, Ödeme) oder nicht weiß, wie man jemanden aus dem Sessel bekommt. Selbst der kurze Weg zur Toilette kann sich dann wie ein wahnsinniger Hürdenlauf anfühlen. Ich habe die Angst kennengelernt, ob ich ihr weh tue, wenn ich (ohne Kenntnis von Pflegegriffen) versuche, sie „hochzuziehen“. Ich habe die Enttäuschung kennengelernt, daß sie Speisen/Getränke, die ich extra für sie gemacht habe, kaum oder gar nicht essen wollte (das ist normal, das wußte ich – aber es tut trotzdem weh). Ich habe die Veränderungen bemerkt, die durch die Gabe der Morphintropfen eintraten. Es war ein kurzer Einblick in die Arbeit und in das Leid, das manche Menschen (Kranke und Pflegende) jahrelang ertragen müssen. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es meiner Mutter und mir ergangen wäre, wenn wir eine derart lange Zeit des Leidens hätten durchstehen müssen.

Auf Twitter fragte gestern jemand die „Tatort-Betroffenen“, ob die sich das nicht so hätten vorstellen können. Nein, ganz ehrlich. Ich wußte immer, daß eine schwierige Zeit kommen kann und ich habe ab August auch viel dazu gelesen. Aber konkret vorstellen konnte ich mir das nicht. Wie auch, ich habe das vorher nie erlebt. Es war eine schwierige Zeit. Gleichzeitig möchte ich diese Zeit nicht missen. Es war wunderbar, daß ich meine Mutter bis zu ihrem Tod begleiten konnte und es war schön, daß wir bewußt voneinander Abschied nehmen konnte. Ich bin aber auch dankbar für die unglaubliche Hilfe, die ich durch die SAPV Wuppertal GmbH bekommen habe. Ohne diese Hilfe wäre der letzte Teil des Weges viel schwieriger gewesen.