Der Momos-Traum der Überwacher

Manche Gedanken sind uralt – so auch der Traum der Überwacher zu wissen, was die Überwachten denken. Beim Lesen des Buches „Transparenztraum“ von Manfred Schneider begegnete mir (zum ersten Mal) Momos. Erster Gedanke: Genitiv von Momo? Nein, definitiv nicht, denn die Zwischenüberschrift „Momos und seine Freunde“ ließ dies nicht zu. Zweiter Gedanke? Wer um Himmels willen ist Momos?

Wer ist Momos?
Im Gegensatz zu Momo ist Momos für mich ein gänzlich Unbekannter. Dabei ist er – gemessen an seinen hervorstechenden Eigenschaften – eigentlich eine wichtige Persönlichkeit. Umso erstaunlicher, daß sein Name im Laufe der Zeit verloren ging. Momos ist nämlich der Gott des Tadels, des Spott und der scharfzüngigen Kritik. Gleichzeitig ist er derjenige, der es wagt, auch die großen Götter zu kritisieren. Und das macht ihn irgendwie sympathisch.

Die Kritik des Momos
Aesop schildert in einer Fabel, daß Zeus, Prometheus und Athene einen Wettbewerb veranstalten. Jeder der drei Götter soll etwas richtig Gutes machen, Momos soll den Wettbewerb als Schiedsrichter entscheiden. Zeus erschafft einen Stier, Athene ein Haus und Prometheus einen Menschen. Aber Momos – der eben nicht zu Unrecht den Beinamen der Tadler trägt – kritisiert alle drei Werke. Interessant ist vor allem, was er beim Werk von Prometheus kritisiert – nämlich, daß der Mensch kein Fenster zum Herzen hat, so daß die Nachbarn sehen können, was er plant. Alles, was der einzelne im Sinn hat, soll für alle sichtbar sein. Zeus ist über die Kritik an den Werken verärgert und wirft Momos vom Olymp und so verschwindet Momos von der  Bildfläche und weitestgehend auch aus dem Gedächtnis der Menschen. Auch Rainer Hagen hat Momos gesucht und seine Spuren ausführlicher zusammengetragen.

Das Fenster zum Herzen
Momos kritisiert alles und jeden. Als Tadler und Nörgler findet er kein gutes Wort. Ich sehe einerseits den mutigen Teil – alles zu hinterfragen und nicht auf die Größe des Gegenübers zu achten. Andererseits ist Kritik um der Kritik willen oft nicht hilfreich. Aufgegriffen habe ich die Fabel aber vor allem, weil mich die Forderung nach einem Fenster zum Herzen des Menschen so sehr an die aktuelle Vorgehensweise der Geheimdienste, Überwacher und auch überwachenden Unternehmen erinnert. Sie alle wollen wissen, was wir eigentlich machen, denken und fühlen. In immer mehr Kombinationen von freiwillig oder unfreiwillig erfaßten Daten und der Möglichkeit des Zugriffs auf Emails, SMS und andere persönliche Nachrichten, bilden sich andere Menschen ein „Bild“ von uns und unserer Persönlichkeit. Oftmals entspricht dieses Bild so gar nicht unserem Selbstverständnis, unserem Bild von uns selbst. Welches Bild ist richtig? Und wer bestimmt, welches Bild richtig ist?

Momos als Mutmacher
Der Vorschlag des Momos, daß jeder Mensch ein Fenster zum Herzen haben soll, verstört und verschreckt mich. Ich möchte nicht, daß jeder in mir wie in einem offenen Buch lesen kann. Ich möchte selber bestimmen, welche Gedanken und Gefühle ich wann, wo und  mit wem teile. Andererseits denke ich, daß Momos durchaus auch Mut machen kann. Völlig uneingeschüchtert kritisiert er die Werke aller drei Götter. Und da steckt der mutmachende Gedanke: was Momos kann, das können wir Menschen auch. Wir können ohne Ansicht der Person und der Stellung Meinungen, Stellungnahmen und Entwicklungen hinterfragen – allerdings sollten wir dabei freundlicher wirken als Momos, damit man uns nicht als Nörgler und Tadler (oder „Trolle“) abtut.

„Lords of Finance“

Januar 2014: wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, dann liegt in mancher Hinsicht eine turbulente Zeit hinter „uns“. Mit „uns“ meine ich jetzt die Menschen in Deutschland, in der EU und auch in vielen anderen Ländern. Das Thema „Euro“ und „Eurorettung“ haben uns in den letzten Monaten und Jahren immer wieder beschäftigt, durchaus in Zusammenhang mit den diversen Bankenkrisen. Gleichzeitig ist 2014 das Jahr, in dem wir auf 1914 zurückblicken – auf den Beginn des ersten Weltkriegs.

Das Buch „Lords of Finance“ mit dem Untertitel „1929, the great depression, and the bankers who broke the world“ von Liaquat Ahamed habe ich bei einem Spaziergang durch die Frankfurter Bahnhofsbuchhandlung entdeckt. Ahamed schildert die Finanzgeschichte der Zeit von 1914 bis 1944 – eine Geschichte, die mir bisher weitestgehend unbekannt war. Nicht einmal die Namen der damals einflußreichen Banker waren mir bekannt oder kennt Ihr/kennen Sie Montagu Norman, Benjamin Strong, Emile Moreau und Hjalmar Schacht? Lediglich John Maynard Keynes war mir schon aus meiner Schulzeit bekannt – seine Rolle hätte ich aber niemals einordnen können. Durch das Buch „Lords of Finance“ habe ich spannende aber auch erschütternde Einblicke in eine Zeit erhalten, die ich – gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte – als sehr wichtig empfinde. Ahamed schildert sehr eindrücklich die persönlichen Geschichten der vier einflußreichen Banker, ihr jeweiliges Bemühen um Lösungen, ihr Pokern und ihr Scheitern und die politische und historische Entwicklung.

Es war eine lange Entwicklung, die in den 30er Jahren zur Weltwirtschaftskrise führte. Nach dem Lesen des Buches habe ich das Gefühl, daß es eine tragische und langandauernde Verknüpfung von Fehlentscheidungen, Nichtwissen, Antipathien und völlig unterschützten Auswirkungen von Entscheidungen und Maßnahmen war.  Tragisch vor allem deshalb, weil alle Beteiligten sicherlich andere Ziele hatten. Irritierend war für mich allerdings, daß ich mich an vielen Stellen des Buches auch an aktuelle Situation erinnert fühlte (der Autor greift dieses Thema am Ende des Buches in einem Epilog auf).

Aus meiner Sicht ein sehr lesenswertes Buch. Unter dem Titel „Die Herren des Geldes“ gibt es übrigens auch eine deutsche Fassung des Buches.