Schlechte Lesezeiten……

Gerade habe ich meine Leseliste für 2020 aktualisiert. Es ist traurig, ich bin kaum zum Lesen gekommen. Nicht, weil ich keine Zeit gehabt hätte, sondern einfach weil ich ab Anfang März kaum die notwendige Ruhe gefunden habe. Lesen ist für mich eine Beschäftigung, die einerseits natürlich Zeit, aber auch Ruhe und Konzentration braucht. Zeit hätte ich gehabt, Ruhe und Konzentration waren schwierig.

Ich habe in einem Tweet vor einiger Zeit geschrieben, daß Unsicherheit zu meinem Berufsleben gehört und ich normalerweise gut damit umgehen kann. Aber plötzlich war da zuviel Unsicherheit. Von einem Tag auf den anderen war nicht abzusehen, ob beziehungsweise in welchem Ausmaß ich überhaupt noch Aufträge und damit Einnahmen habe. Gleichzeitig fielen alle Möglichkeiten weg, die ich sonst in schwierigen Zeiten nutze, um auf andere Gedanken und Ideen zu kommen. Theater und Museen waren geschlossen, Ausflüge undenkbar. Egal wohin ich schaute, überall stand sichtbar oder unsichtbar „Corona“.

Ich habe stundenlang Nachrichten und Fernsehsendungen zum Thema angeschaut, Berichte gelesen, den jeweils aktuellen Stand verfolgt. Es hat mir auch vorher immer geholfen mit einem Problem umzugehen, wenn ich möglichst viel weiß und mir den schlimmsten Ausgang vorstellen kann. Die wenigen Male in meinem Leben, in denen ich tatsächlich auf etwas Gutes vertraut (und auch gehofft) habe, waren die Momente in denen ich am tiefsten verletzt wurde und am meisten gelitten habe. Gleichzeitig raubte mir die Fokussierung auf die Nachrichten – ohne Möglichkeit der Ablenkung, ohne Möglichkeit mit anderen Menschen vertraulich darüber zu sprechen – auch jeden Funken von „Kreativität“. Ich kam mir vor wie ein Kaninchen, das gebannt auf die Schlange „Corona“ starrt, vollkommen hypnotisiert und bewegungsunfähig. Irgendwie kam mir die Situation vor wie „Die Todesliste des Bären“ – nur daß ich weder die Kraft noch den Mut hatte, mich von dem Thema abzuwenden und irgendetwas anderes zu machen.

In der Zeit nahm ich viele Bücher in die Hand, öffnete sie und legte sie nach einigen Seiten wieder weg. Manchmal paßten sie thematisch nicht, manchmal wurde ich nach wenigen Zeilen unruhig und suchte online nach Neuigkeiten. Manchmal trieb ich im Strudel der negativen Gedanken (die ich sonst nur aus dem privaten Bereich kenne). Einziger Lichtblick waren die langen Spaziergänge, die ich in dieser Zeit gemacht habe. Ohne Einkehr, ohne Rückfahrt mit dem Bus – einfach nur ein langer Rundweg, der mich aus dem Haus und weg von Fernsehen, Internet und Twitter brachte. Das war zumindest immer eine willkommene und gute Unterbrechung. Aber es reichte nicht aus, um die Ruhe zum Lesen zu finden. Zu viel war unsicher, zu wenig gut und zu wenig Zuversicht vorhanden, daß „alles“ gut werden könnte. Nein, auch jetzt kann nicht alles gut werden, das ist einfach nicht möglich. Und auch jetzt ist die Unsicherheit nicht gebannt, im Gegenteil – sie hat sich nur anders „gekleidet“. Aber zumindest habe ich die letzten Wochen irgendwie überstanden und das, ohne meine (aufgrund der letzten Jahre schon mageren) Rücklagen aufzubrauchen.

Irgendwann um Ostern herum konnte ich meinen Medienkonsum einschränken. Es war nicht mehr wichtig, jeden Tag die Nachrichten zu verfolgen, jeden Tag informiert zu sein. Dieser Verzicht schenkte mir etwas mehr Ruhe und tatsächlich die Möglichkeit wieder etwas mehr zu lesen. Weniger als in den meisten Vorjahren (2017 und 2018 waren bisher die negativen Ausreißer), aber doch mehr als in den Vorwochen. Es war der Zeitpunkt ein paar dickere Hardcoverbücher anzugehen – etwas, das ich länger nicht gemacht habe. Wenn ich unterwegs bin, habe ich sonst fast immer Taschenbücher dabei (und meist mehrere, damit ich – abhängig von meiner Stimmung – auswählen kann, was ich lese).

Nach Ostern gab es dann neue Aufgaben, mit denen ich mich beschäftigen konnte und durfte. Die ersten Kurse fanden online statt und ich war ziemlich gut damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich die jeweiligen Inhalte „interaktiv“ gestalten kann. Ich habe zu diesem Thema viel gelesen, nachgedacht, nach Tools gesucht und relativ viel Zeit in die Vorbereitung der jeweiligen Kurse gesteckt. Immerhin etwas, wo ich das Gefühl hatte, etwas Sinnvolles und Positives zu tun. (Ja, es gab in der ganzen Zeit auch normale Aufträge. Aber halt deutlich weniger als sonst.)

Die Tage vergingen in einem merkwürdig gleichförmigen Ablauf von Schlafen, Aufwachen, Kochen, Essen, Schlafen – irgendwo dazwischen mit „Arbeitsinseln“, „Informationsinseln“, Spaziergängen und dem kurzen Griff nach dem einen oder anderen Buch. Der Stapel der angefangenen Bücher war selten so hoch wie im Moment. Und meistens schaue ich den Stapel nur an und greife dann doch nach einem völlig anderen Buch, um es nach wenigen Seiten auf den Stapel zu legen.

Für mich ist es keine gute Lesezeit. Mir fehlt ganz eindeutig das Gefühl, das irgendetwas irgendwann gut werden könnte und aufgrund meiner Krisenerfahrungen der letzten Jahre fehlt mir auch die Zuversicht, daß es sich tatsächlich zum Positiven ändern könnte. Nichts ist so hartnäckig wie die Krisenerfahrung, die man in seiner Seele trägt.

Euch wünsche ich, daß Ihr die Zeit, die Ruhe und die Zuversicht habt, um Schönes zu erleben, schöne Momente zu genießen und Euch von guten Büchern verzaubern zu lassen.

Was tue ich, damit es mir gut geht?

In diesen Zeiten ist es besonders wichtig, das eigene Wohlbefinden zu erhalten oder zumindest wiederherzustellen. In den letzten Jahren habe ich schon einige schwierige Zeiten durchgestanden, aber nicht alle Mittel aus dieser Zeit sind im Moment „verfügbar“. Daher möchte ich hier aufschreiben und sammeln, was ich tue, damit es mir – trotzdem – gut geht und ich ruhig und fröhlich arbeiten aber auch die Freizeit genießen kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr Eure Tipps mit mir teilt – ich ergänze die gerne hier!

Lange einsame Spaziergänge
Gerade an diesen schönen sonnigen Frühlingstagen genieße ich lange (einsame) Spaziergänge sehr. Gestern und heute war ich am Vormittag etwas länger unterwegs. Ich habe mich an der Natur, der Ruhe und der frischen Luft erfreut und hatte dann wieder die für meine Arbeit notwendige Zuversicht. Und im „schlimmsten Fall“ könnte ich immer noch den Weg zum Einkaufen zu Fuß gehen – das ist landschaftlich zwar weniger schön, erfüllt aber trotzdem den Zweck!

Freundlich lächeln und grüßen
Wenn mir auf meinen Wegen Menschen begegnen, dann lächle ich sie (fast immer) freundlich an und grüße sie. Ich bleibe nicht stehen, ich unterhalte mich nicht – aber es gibt diesen kleinen Moment der Verbundenheit durch das Lächeln und die Begrüßung. Die meisten grüßen dann auch – und wer es nicht tut, hat vielleicht gerade ein Lächeln und einen freundlichen Gruß besonders nötig.

Gutes kochen und backen
Im Alltag geht es manchmal ein bißchen unter und dann mache ich oft auch eher schnelle Gerichte (so etwas wie Milchreis, Grieß oder Bandnudeln mit Zucchini und Pilzen), aber im Moment nehme ich mir relativ viel Zeit, um zu kochen und zu genießen. Gestern zum Beispiel Tomaten-Bärlauchsalat (ich habe zwei große Bärlauchecken im Garten) und Bärlauch-Gurkensuppe, heute Erdbeerpfannkuchen. Für die nächsten Tage habe ich für einige Gerichte schon die Zutaten im Haus – ich werde dann spontan entscheiden, was gekocht wird …… Kochen und das Ausprobieren von neuen Rezepten (am Wochenende war es ein Quarkgugelhupf) lenken mich jedenfalls gut von trüben Gedanken ab.

Neugier kultivieren
Ich bin grundsätzlich (fast immer) neugierig – vor allem in bezug auf Themen. Das ist manchmal anstrengend, da ich zuviele unterschiedliche Themen und Gedanken „gleichzeitig“ verfolge (oder es zumindest versuche), andererseits entstehen daraus oft gute Ideen und neue Herangehensweisen oder (zum Beispiel für meine Workshops) Aufgaben. Gerade jetzt ist meine Neugier hilfreich. Ich beschäftige mich mit vielen Themen, die auf den ersten Blick wenig oder gar nichts mit quälenden Gedanken oder Sorgen zu tun haben. Ich kann mich so stark in diese Themen vertiefen, daß ich über Probleme nicht ständig nachdenke. Das macht den Kopf dann wieder frei, um neue Gedanken zu entwickeln, die vielleicht helfen können. Im Moment habe ich zum Beispiel ein paar (kostenfreie) Kurse bei Future Learn belegt und mich bei den Edunauten – einem Unkurs zum Thema Online-Lernen – angemeldet. Weitere Aktivitäten werden sicher folgen ……

Gute Bücher lesen
Meine Sammlung noch nicht gelesener Bücher ist sehr sehr groß. Das ist ein Vorteil (und manchmal – wenn ich mich nicht so richtig entscheiden kann und dann viele Bücher auf einmal lese und mit keinem „fertig“ werde, auch ein kleiner Nachteil). Ich finde für jede Stimmung ein Buch, das irgendwie paßt und das ist gut so, denn gute Bücher entführen mich thematisch in eine andere Welt – in eine Welt der Möglichkeiten und Ideen, in eine Welt der Erinnerungen oder auch in eine Welt der Vorstellungen und Wünsche für die Zukunft. Es liegt an mir, welchem Buch ich zu welchem Zeitpunkt meine Zeit schenke.

Gedanken und Gefühle von der Seele schreiben
Ich habe sehr lange jeden Tag handschriftlich drei Seiten geschrieben und mache das jetzt auch wieder. Es war (und ist) eine gute Gelegenheit, mir die Gedanken und Gefühle von der Seele zu schreiben. Papier ist geduldig und manchmal wurde aus einem Jammern über zweieinhalb Seiten plötzlich das Aufglimmen von Zuversicht und der Kern einer Idee. Gleichzeitig schwierig und wichtig ist es, tatsächlich drei Seiten voll zu schreiben – notfalls zum Beispiel mit „Ich weiß echt nicht, was ich schreiben soll. Das ist so blödsinnig……“. Nach solchen Sätzen (manchmal mehrere dieser Art) kam ich tatsächlich immer zu völlig anderen – manchmal sehr überraschenden – Themen. Ich habe alle Seiten in zwei dicken Ordnern abgeheftet, damit ich sie irgendwann mal durchblättern kann. Für die Zeit 2017 habe ich das vor kurzem gemacht und ich war positiv überrascht, wie sehr mir dieses tägliche Schreiben der drei Seiten geholfen hat, meine Ruhe, meine Freude und meine Zuversicht zu bewahren.

Tägliche Rituale
Es sind kleine Rituale – wie zum Beispiel der tägliche Tee, das Öffnen der Fenster zum Lüften, das Bettenmachen, die halbwegs geregelte Zeit zum Schlafengehen, das Ansehen der Nachrichten zu einem bestimmten Zeitpunkt – die kleine feste Punkte in meinem Alltag sind. Sie bewahren mir das Gefühl von Normalität trotz aller Änderungen.

Gefühl des Wohlwollens
Gelegentlich bin ich über andere Menschen genervt – dann hilft es mir, ihnen mit einem Gefühl des Wohlwollens zu begegnen, also mir bewußt zu machen, daß die allermeisten Menschen nichts Böses im Schilde führen und das aus ihrer Sicht Richtige und Gute tun wollen. Das macht es mir leichter geduldig und freundlich zu bleiben. Ich kann die Angst und Überforderung anderer Menschen dann wahrnehmen ohne verärgert oder genervt zu reagieren. Dieses Gefühl des Wohlwollens gilt gerade auch für Menschen, die in diesen Zeiten Entscheidungen treffen müssen.

Und Ihr?
Und nun seid Ihr dran. Was macht Ihr, damit es Euch gut geht? Ich würde mich freuen, wenn Ihr Eure Tipps mit mir teilt – damit es uns allen gut geht!

In Zeiten von Corona…..

Es ist eine merkwüdige Zeit. Ende Dezember war ich im LWL Museum für Archäologie in Herne in der Pest-Ausstellung . Eine spannende Ausstellung. Ich hätte nicht gedacht, daß wir nur kurze Zeit später auch hier in Europa eine Pandemie erleben würden. Es ist daher an der Zeit, ein paar Zeilen zu diesem Thema zu schreiben.

Die persönliche Ebene
Wer über einen längeren Zeitraum meine Tweets und/oder Blogbeiträge gelesen hat weiß, daß ich praktisch keine privaten Kontakte mehr zu Menschen habe. Das sind eben die persönlichen Spuren der letzten beiden Jahre. Ich bin tatsächlich nur für mich selbst verantwortlich, andere Menschen gibt es in meinem privaten Umfeld nicht. Insofern fällt mir der Gedanke des „Social Distancing“ sehr leicht. Da ist ja nichts, was ich ändern muß. Mit Anfang 50 ohne (bekannte) Vorerkrankungen ist mein persönliches Risiko eines schweren Verlaufs vermutlich eher gering. Aber natürlich gibt es dafür keine Garantie. Der Gedanke an den Tod bereitet mir jedoch keine Angst. Wenn es denn „jetzt“ sein soll, dann ist das halt so. Was ich für mich persönlich allerdings nicht in Ordnung fände – wenn ich das Risiko für Euch und Eure Angehörigen und Freunde erhöhe. Es ist eben auch meine Verantwortung mit dazu beizutragen, daß es Euch und Euren Angehörigen und Freunden „gut“ geht. Ich habe daher keine weiteren Theaterkarten gebucht, keine Ausstellungen besucht und auch die Nutzung des ÖPNV auf notwendige Wege beschränkt. Mit diesem Verzicht versuche ich dazu beizutragen, die Ausbreitung zu verlangsamen („flatten the curve“). Ja, für mich ist das ein Verzicht, denn Theaterbesuche waren in den letzten beiden Jahren mein größtes Vergnügen. Gleichzeitig bin ich dankbar, daß ich so viele schöne Aufführungen und Veranstaltungen erlebt habe und ich freue mich darauf, das auch irgendwann wieder machen zu können. Es ist meine Entscheidung und es ist für mich so vollkommen in Ordnung. Ich werde jetzt also endlich mal richtig aufräumen (wer es glaubt ….) und die vielen ungelesenen Bücher lesen (schon eher……).

Die gesellschaftliche Ebene
Ich habe die Diskussionen, Tweets, Beiträge etc. rund um das Thema Coronavirus sehr intensiv verfolgt. Nicht aus Panik, nicht einmal wirklich aus Angst, eher aus großem Interesse. Manche Äußerungen haben mich irritiert und geärgert (oft, weil es stark vereinfachende Äußerungen waren), manche Informationen waren schwer verständlich, manche Beiträge fand ich sehr hilfreich. Es ist tatsächlich unheimlich schwierig, das richtige Maß zwischen notwendiger Vorsicht und maßloser Übertreibung zum jeweils richtigen Zeitpunkt zu finden. Daher bin ich für die vielen Quellen dankbar, die die notwendigen Informationen in einer für mich verständlichen Form aufbereiten. Beispielhaft möchte ich hier die Beiträge von Spektrum (danke an @fischblog) und die mittlerweile auch als Transkript verfügbaren Gespräche des NDR mit Christian Drosten erwähnen. Es ist gut und hilfreich, daß Menschen sich die Zeit nehmen, ihr Wissen mit anderen Menschen zu teilen.

Was ich tatsächlich schwierig finde ist der unterschiedliche Umgang mit und das unterschiedliche Verständnis von „Verantwortung“. Ich habe mich an die Definition von Schmid erinnert, die mir im Rahmen der Mediationsausbildung begegnet ist. Verantwortung bedeutet danach Antworten zu geben und zwar auf der Ebene der Person als „antworten wollen“ auf der Basis der eigenen Werte und „antworten können“ auf der Basis der Qualifikation, auf der Ebene der Organisation als „antworten dürfen“ (Ausstattung – zum Beispiel mit Befugnissen) und „antworten müssen“ als Kriterium der Zuständigkeit. Gerade auf der gesellschaftlichen Ebene sind die Kriterien Zuständigkeit und Befugnisse hoch interessant. Möglicherweise entdecken wir jetzt Lücken und Unklarheiten in unserer Gesetzgebung. Das sind Themen, die uns aus rechtlicher Sicht „danach“ sicherlich noch lange beschäftigen werden. Die unterschiedlichen Zuständigkeiten und Befugnisse machen manches schwierig und zeitaufwändig. Das empfinde ich aus der Beobachungsperspektive schon manchmal als „nervig“. Andererseits ist es wahrscheinlich leicht, etwas zu fordern oder vorzuschlagen, wenn man selbst nicht die Verantwortung für die Entscheidung trägt. Ich bin daher für die vielen Menschen dankbar, die sich im Moment mit diesen Themen auseinandersetzen und sich bemühen, gute Entscheidungen zu treffen.

Das bringt mich zum Thema „Wohlwollen“. Ich war gestern positiv überrascht als ich ein paar Minuten bei Phoenix im Livestream die Regierungsbefragung von Herrn Spahn im Bundestag verfolgte. Die Arbeit von Herrn Spahn und vom RKI wurde mehrfach positiv erwähnt. Ich finde das richtig und wichtig. Es gibt zig Themen, bei denen ich mit den Ansichten von Herrn Spahn überhaupt nicht übereinstimme und über diese Themen (zum Beispiel Ausstattung von Krankenhäusern/Pflegeheimen, Umgang mit dem Thema Sterbehilfe) sollte man auch „streiten“, aber ich sehe auch, daß Herr Spahn sich wirklich sehr bemüht, im Rahmen seiner Befugnisse und Zuständigkeiten gute Arbeit zu leisten. Das ist in der aktuellen Situation schwierig genug. Ob das, was in Zusammenarbeit mit den Länderbehörden und lokalen Gesundheitsbehörden gemacht und entschieden wird, ausreicht, werden wir erst „hinterher“ wissen.

In dem Zusammenhang finde ich den Umgang mit der Zahl 1000 spannend. Jede Zahl für Treffen oder Veranstaltungen erscheint mir nach dem, was ich bisher gelesen habe, willkürlich. Es ist eher eine Frage der Wahrscheinlichkeit und natürlich auch des Glücks (oder Unglücks), ob beziehungsweise wieviele am Virus erkrankte Menschen teilnehmen. Das Schwierige ist ja, daß viele Menschen das Virus in sich tragen können ohne es zu wissen/zu merken. Das kann bei 900 Menschen genauso problematisch sein wie bei 1000. Letztlich hängt es damit zusammen, wie eng man mit anderen Menschen „zusammenkommt“ – gerade in kleineren Theatern empfinde ich das zum Beispiel oft eher als Problem als in größeren Häusern. Eine Begrenzung auf „nur“ 999 Besucher/Zuschauer, die abgezählt werden, mag zwar zahlenmäßig richtig sein, den Aspekt der Verantwortung beantwortet sie für mich nicht. Deshalb bin ich auch dankbar, daß zum Beispiel die Stadt Düsseldorf alle Aufführungen in den städtischen Theatern abgesagt hat, obwohl im Schauspielhaus im großen Haus zum Beispiel nur 720 Plätze sind (Meldung auf der Startseite des Schauspielhauses Düsseldorf). Das ist für mich ein gutes Zeichen, daß Verantwortung wahrgenommen und gelebt wird. Bei vielen anderen Veranstaltern und Häusern lese ich das auch. Gleichzeitig ist mir auch bewußt, daß dies bei vielen Veranstaltern und Häusern (gerade auch bei den kleineren und rein privat „organisierten“) zu großen Einnahmeausfällen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen wird. Aber dazu später.

Mein besonderer Dank gilt in dieser Situation allen, die trotz eigener persönlicher Gefährdung, tagtäglich – ohne Möglichkeit des Rückzugs in ein Homeoffice – ihre Arbeit vollbringen. Allen voran natürlich die Menschen im (ohnehin schon überlasteten) medizinischen Bereich, aber auch alle die sich zum Beispiel um unsere Versorgung (zum Beispiel mit Lebensmitteln) und um unseren Schutz (Feuerwehr, Polizei) kümmern, die unser „normales“ Leben so weit wie möglich aufrecht erhalten!

Die wirtschaftliche Ebene
Einerseits führt jedes Zögern bei notwendigen Einschränkungen zu mehr Kranken (und damit auch mehr Toten), andererseits hat jede einschränkende Maßnahme auch gravierende wirtschaftliche Folgen. Ich selber kann noch nicht absehen, ob beziehungsweise in welchem Ausmaß mich diese Situation treffen wird. Nach den letzten persönlich schwierigen Jahren sind meine Reserven sehr gering. Andererseits ist es bei mir in dem Bereich bisher immer irgendwie „gut“ gegangen. Ich hoffe, daß es „irgendwie“ auch diesmal so sein wird.
Zu den wirtschaftlichen Folgen bei Unternehmen gab es schon Vorschläge. Was aus meiner Sicht bisher komplett unter den Tisch fällt ist der Umgang mit mit den vielen Selbständigen, bei denen Aufträge wegfallen (zum Beispiel wegen Ausfall von Workshops/Trainings, Konferenzen) und dem ganzen Kunst- und Kulturbereich und den dort eben nicht abgesicherten Kreativen/Künstlern. Es ist wichtig, daß wir als Gesellschaft hier Lösungen entwickeln, die uns allen ein gutes Überleben in dieser schwierigen Situation erlauben. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Lösungen tatsächlich aus der Politik kommen werden. Dort wird meines Erachtens der Fokus gerade sehr stark auf die größeren Unternehmen gelegt. Das bringt mich zum nächsten Punkt – nämlich zu der Frage, was es an Ideen und Entwicklungen gibt, die wir trotz aller Einschränkungen, anstoßen oder gar umsetzen können.

Die „kreative“ Ebene
Gerade in den letzten Tagen habe ich den Start einiger Aktionen/Maßnahmen gesehen, die sich mit den Problemen und Beschränkungen, mit dem Verlust der Kontakte durch Social Distancing und den Folgeproblemen beschäftigen. Beispielhaft für die Organisation des Alltags (Einkaufen, Gespräche etc) sind bei Twitter Tweets mit den Hashtags #Coronahilfe und #NachbarschaftsChallenge. Jede/-r kann dort anbieten, was er/sie leisten könnte oder was er/sie braucht. Das ist gelebte Gemeinschaft und Solidarität in Zeiten des phyischen Kontaktverzichts. Danke an @Natascha_Strobl, die frühzeitig dieses Thema angeregt hat und die jetzt (weil ihr Kind zu einer Risikogruppe gehört) sich selber in „freiwilliger Quarantäne“ befindet, um das Leben ihres Kindes zu schützen.

Gleichzeitig erlebe ich, daß einige Organisationen Veranstaltungen oder Wissen, kostenfrei zur Verfügung stellen. So bietet die Plattform Future Learn zum Beispiel einen kostenfreien Onlinekurs in englischer Sprache zum Thema „Covid-19“ an, der am 23.03.2020 startet. Und morgen Abend kann man die Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle kostenlos in der Digital Concert Hall erleben.
An anderen Orten werden Tipps zu Livevideoformaten und Onlinelearning gesammelt – gerade auch gut für diejenigen, die zumindest einen Teil der Veranstaltungen/Workshops in die digitale Welt „übertragen“ können. Veranstaltungen der ausgefallenen Leipziger Buchmesse und auch anderer Konferenzen werden zum Teil als Videos aus dem Home-Office gestreamt.

Technisch ist heute viel möglich. Was mir fehlt? Der Überblick über die „Orte“ und „Zeiten“, wo solche Veranstaltungen stattfinden. Es sind immer einzelne Tweets, in denen ich Hinweise auf solche Veranstaltungen finde. Was mir auch fehlt, die Möglichkeit, kleinere Veranstalter/Einzelne mit kleinen Beträgen zu unterstützen. Ein gedankliches Beispiel: wenn jemand etwas für mich Wertvolles kostenlos im Netz zur Verfügung stellt und ich es mir finanziell leisten kann, dann bin ich gerne bereit, einen Beitrag zu leisten. Aus diesem Grund bin ich zum Beispiel bei „taz zahl ich“ mit dem Mindestbetrag dabei – eben weil ich es gut finde, daß ich mit meinem kleinen Beitrag anderen Menschen die Möglichkeit geben kann, Artikel weiterhin kostenfrei auf der Webseite zu lesen. Könnte man das nicht auch ähnlich für den Kulturbereich machen? Im Sinne von „jeder Euro zählt“?

Die spannende Frage für mich ist daher: welche neuen Angebots- und Bezahlmodelle für Kultur, Kunst, Wissen und/oder Dienstleistungen können wir entwickeln? Wie können wir dank der technischen Möglichkeiten aus der Krise heraus neue Modelle und Ideen entwickeln? Wie können wir aus einem Moment des „Shutdowns“ und des (vermeintlichen) „Stillstands“ eine kreative also ideenschaffende virtuelle Umgebung schaffen, in der wir neue Kontakte schließen und Neues angstlos ausprobieren? Ja, wir können auch da Fehler machen und scheitern. Das ist mir oft genug passiert. Aber lieber versuchen und scheitern als komplette Untätigkeit!

Ihr habt Ideen? Ihr kennt Initiativen? Ich freue mich über das, was wir in dieser schwierigen Zeit gemeinsam anregen und bewegen können!