Wir leben in denkwürdigen Zeiten – aber vermutlich haben das Menschen schon immer über ihre Zeit gedacht. Es gibt Ereignisse und Entwicklungen, die mich traurig machen und erschrecken und es gibt auch immer wieder Lichtblicke. Der Blick in die Nachrichten, in Zeitungen oder in meine Twittertimeline erscheint mir immer wieder wie eine emotionale Achterbahnfahrt. Aber auch dieses Gefühl ist nicht wirklich neu – es gibt einen Romananfang, der für mich wie kein anderer auf diese Situation paßt:
It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to heaven, we were all going direct the other way – in short, the period was so far like the present period, that some of its noisiest authorities insisted on its being received, for good or for evil, in the superlative degree of comparison only.
(und hier der Link auf eine deutschsprachige Fassung)
Diese für mich so treffenden Zeilen stammen aus A tale of two cities – einem Roman von Charles Dickens über die französische Revolution. Charles Dickens schrieb diesen Roman zu einem Zeitpunkt als sich sein Leben stark veränderte – im Rückblick auf die großen historischen Veränderungen. Veränderung liegt aber auch jetzt „in der Luft“ ……
Die beste aller Zeiten und die schlechteste aller Zeiten
Es gibt sicher viele Beispiele, die ich hier erwähnen könnte. Für mich persönlich steht an dieser Stelle das Thema „Flüchtlingskrise“ im Vordergrund. Ich kann die Menschen verstehen, die sich in einer für sie ausweglosen und perspektivlosen Situation auf den Weg nach Europa und nach Deutschland machen. Vermutlich würden wir auch so handeln, wenn wir in dieser Situation wären. Ich habe in den letzten Wochen begeistert und geradezu gerührt verfolgt, mit welcher Anteilnahme die Menschen in Deutschland begrüßt wurden und wie viele Aktionen und Projekte ins Leben gerufen wurden. Es war auch einer der wenigen Momente der letzten Jahre, in denen ich tatsächlich der Politik und der Haltung der Bundeskanzlerin zustimmen konnte.
Doch die letzten Wochen haben auch viel Unschönes gezeigt. Die Berichte aus Ungarn, die end- und fruchtlosen Diskussionen der Europäischen Union über eine Verteilung von Flüchtlingen, die Anschläge auf Unterkünfte für Flüchtlinge, die Diskussion um die zahlenmäßige Begrenzung des Asylrechts, die Forderung nach Grenzkontrollen und Grenzschließungen, die Diskussion über „Transitzonen“ an der Grenze, die Zunahme von fremdenfeindlichen Äußerungen und Demonstrationen, die unklare Lage in Syrien und die Anschläge in Ankara stehen beispielhaft für die negative Seite.
Weisheit und Torheit
Was ist weise und was ist unsinnig? Vermutlich läßt sich im Rückblick vieles leichter erkennen und einordnen. In zwanzig Jahren werden wir vielleicht schon wissen, ob unsere Entscheidungen in diesem Jahr gut waren, ob wir gut gehandelt haben und wie sich unser Weg entwickelt hat. Aber was machen wir bis dahin?
Die Schwierigkeit ist, daß wir mit einer veränderten Situation umgehen müssen. Veränderung ist für viele Menschen erst einmal bedrohlich. Es hilft wenig, diese Ängste als „unbegründet“, „irrational“ oder „unsinnig“ abzutun, das verstärkt im Zweifel nur das Mißtrauen und die Panik der Menschen, die tatsächlich Angst haben. Ich glaube, daß wir uns viel mehr mit den Ängsten der Menschen – auch wenn wir sie nicht teilen oder nicht nachvollziehen können – auseinandersetzen müssen. Unser Umgang miteinander bedarf vermutlich genauso der Veränderung wie unser Umgang mit dem Thema Integration von fremden Menschen.
Glaube und Unglaube
Beim Nachdenken über dieses Begriffspaar bin ich über Christina von Schweden „gestolpert“ – „Alles glauben ist Schwachheit, nichts glauben ist Torheit.“ Ein treffender Satz – gerade auch im Hinblick auf Medien und unseren Umgang mit Medien und deren Inhalten. Wem glauben wir? Und inwieweit sind auch Medien von eigenen Interessen geprägt? Wem wollen wir glauben und warum? Wer kümmert sich eigentlich darum, uns allen die richtigen und wichtigen Fragen zu stellen – genauer eigentlich, daß wir uns die richtigen Fragen stellen?
Licht und Finsternis
In einem gewissen Sinne ist die Tatsache, daß so viele geflüchtete Menschen nach Europa kommen möchten, auch ein Kompliment für Europa. Von außen betrachtet stellt sich Europa als Ort des Lichts dar – ein Ort, an dem Menschenrechte beachtet werden, rechtsstaatliche Verfahren gelten, Menschen eine Chance und eine Perspektive haben. Vieles davon stimmt (immer noch), auch wenn ich selbst – aus dem Inneren Europas betracht – über viele Entwicklungen der letzten Monate und Jahre skeptisch und traurig bin. Aber wenn wir über „dunkle Zeiten“ oder „dunkle Orte“ sprechen, dann beziehen wir uns meistens auf Zeiten und Orte der Vergangenheit, in denen es hier keine Demokratie, keine Menschenrechte und keinen Rechtsstaat gab. Ich bin froh, daß wir in einer „helleren“ Zeit leben, gleichzeitig habe ich Angst, daß es auch bei uns „dunkler“ wird, wenn Grundrechte, Rechtsstaat und Demokratie durch neue Gesetze (zum Beispiel zur Vorratsdatenspeicherung) immer mehr ausgehöhlt werden.
Frühling der Hoffnung und Winter des Verzweifelns
Kommt nach dem „Frühling der Hoffnung“ tatsächlich der „Winter des Verzweifelns“? Viele öffentliche Äußerungen von Politikern und Berichte von Journalisten – zusammen mit den aktullen „Gesetzesprojekten“ – lassen es so erscheinen. Andererseits erlebe ich an vielen Orten – analog wie digital – das Menschen sich einsetzen – für Menschenrechte, für Demokratie und für geflüchtete Menschen. Und so wie im Ablauf der Jahreszeiten nach dem dunklen und kalten Winter auch wieder ein Frühling kommt, so hoffe ich, daß ich nach diesem Herbst wieder ein Frühling der Hoffnung kommt, in dem wir gemeinsam und demokratisch an den Aufgaben arbeiten, die uns die Weltgeschichte gerade beschert.
Was haben wir vor uns?
Gute Frage! Zukunft ist immer unsicher – wir leben nur mit der (meist schönen) Illusion, daß wir unsere Zukunft aufgrund unserer Erfahrungen der Vergangenheit kennen und beeinflussen können. Wir alle wissen nicht, was morgen auf uns zukommt und diese Unsicherheit gehört zu unserem Leben. Das muß und soll uns aber nicht daran hindern, für uns wichtige Themen anzusprechen und an Aufgaben, die wir für wichtig halten, gemeinsam mit anderen zu arbeiten.
Leben ist dynamisch. So wie wir gerade jetzt die Heizung den Temperaturen draußen anpassen (manchmal auch digital und automatisch), so können wir das, was uns wichtig ist, nur dann „bewahren“, wenn wir es immer wieder verändern und anpassen. Eigentlich „nur“ eine lebenslange und große Veränderungsaufgabe – mit vielen Chancen für uns alle, wenn wir uns daran beteiligen!