4. Dezember – D

Heute teilen sich die beiden von mir ausgesuchten Autoren den Vornamen „David“. Anfangen möchte ich mit David Van Reybrouck, dessen Buch „Against Elections“ hervorragend zum heutigen Wahlsonntag in Österreich (Bundespräsidentenwahl) und Italien (Referendum über die Verfassungsänderung) paßt. Der Titel des Buches „against elections“ also „gegen Wahlen“ hatte mich zunächst überrascht. Was in aller Welt sollte in einer Demokratie gegen Wahlen sprechen. Umso überraschter und nachdenklicher bin ich nun nach der Lektüre dieses Buches.

David van Reybrouck stellt fest, daß weltweit und vor allem auch in Europa ein „demokratisches Ermüdungssyndrom“ vorliegt. Was ist der Grund für diese Erkrankung? Sind es die Politiker, wie es oft von populistischen Parteien behauptet wird? Sind es die langwierigen Abstimmungsprozesse, die von Experten schneller und damit „effizienter“ durchgeführte werden könnten? Ist es die Tatsache, daß durch die Parlamente der Abstand zwischen Regierung und Regierten (zu) groß ist? Oder war das System der repräsentativen Vertretung durch Wahlen nie wirklich „demokratisch“ sondern eher auf Schaffung einer „Wahlaristokratie“ ausgelegt?
Inwieweit leben wir in einem vertikalen Modell, daß aufgrund einer solchen „Wahlaristokratie“ ein oben und unten kennt und voraussetzt? Inwieweit verstärkt sich die Ermüdung dadurch, daß wir Wahlen immer wieder – trotz relativ großer Machtlosigkeit – als Momente der Hysterie und der nationalen Krise wahrnehmen?

Führt eine zufällige Auswahl (zum Beispiel durch Losverfahren) zu besseren inhaltlichen und vor allem demokratischeren Ergebnissen? Was auf den ersten Blick fürchterlich irritierend klingt, belegt David Van Reybrouck durch historische Vergleiche und durch die Analyse von Texten, die sich mit der „Republikgründung“ in den USA und Frankreich befassen. Ja, er könnte mit seiner Diagnose und seiner Kritik recht haben. Spannend ist aber vor allem die Frage, was wir mit der Diagnose anstellen? Wie behandeln wir den Patienten „Demokratie“? Was wollen wir erreichen?

David Van Reybrouck liefert keine einfache Lösung und schon gar keine, die mit „neue Politiker“ oder „mehr direkte Demokratie“ auskommt. Er hinterfragt das sensible Geflecht von Zweckmäßigkeit und Anerkennung politischen Handelns und stellt Methoden vor, die Menschen auf andere Art und Weise in die Prozesse einbinden.

Das ist der Punkt an dem ich an den anderen David dachte – David Bohm und sein Buch „Der Dialog“. Ich habe in der letzten Zeit viele Diskussionen in den Medien verfolgt, Talkshows aber auch Gespräche bei Veranstaltungen. Immer geht es um das Überzeugen, das Gewinnen – ich bin besser, meine Meinung ist besser. Dieses „Gewinnenwollen“ gehört zur Diskussion – zum „Schlagabtausch“. Was aber, wenn wir es schaffen, unsere Meinungen – unsere Annahmen – in der Schwebe zu lassen. Wenn wir etwas „offen“ lassen können, ein Gespräch in einem leeren Raum, ohne Ziel, ohne „Nutzen“, ohne Tagesordnung führen. Schwierig! Aber vielleicht würde schon ein kleiner Ansatz einer eher dialogischen Vorgehensweise helfen, daß wir alle anders miteinander umgehen können!

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen/Euch einen guten 4. Dezember mit guten Gesprächen und Gedanken.

3. Dezember – C

Heute begegnen wir Carl, Carolin und Charles. Anfangen möchte ich mit Charles – nämlich Charles Dickens. Ich mag die Werke von Charles Dickens sehr und habe sie auf diesen Seiten auch schon oft genug erwähnt. Das Werk, das ich in diesem Jahr gelesen habe, hat mich weniger begeistert als betroffen, zu nah ist es in mancher Hinsicht an Themen unserer Zeit und damit paßt es (leider) zu der Stimmung dieses Jahres. Es geht um soziale Ungerechtigkeit, die Schere zwischen arm und reich, den Umgang mit Wahrheit und Lüge, eine (vermeintlich) faktenbasierte Gesellschaft, die gefühllos und unempathisch ist und das, was sich aus dieser Ausgangsbasis entwickelt. „Hard Times“ also „Schwere Zeiten“ heißt das Werk und auch der Titel paßt irgendwie zur aktuellen Situation.

Ende gut, alles gut? Vielleicht nicht – aber so wie Charles Dickens an seine Leser appelliert „Dear reader! It rests with you and me, whether, in our two fields of action, similar things shall be or not. Let them be! We shall sit with lighter bosoms on the hearth, to see the ashes of our fires turn gray and cold.“ so ruft auch Carolin Emcke uns in ihrem Buch „Gegen den Haß“ auf, unsere Handlungen und unsere Sicht auf die Welt zu hinterfragen. Was wir sehen – sehen wollen – und was wir wahrnehmen, ist nicht objektiv und nicht neutral. Was hindert uns, eine Welt der Vielfalt, der Heterogenität und der Pluralität zu leben und zu genießen? Haben wir gerade die Büchse der Pandora geöffnet und verbreiten sich deswegen Krankheit, Hunger und Sorge auf der Erde?

Carolin Emcke fragt im Kapitel „Hoffnung“ nach der Hoffnung, die auf dem Boden der Büchse der Pandora zurückbleibt. Pandora hat die Büchse aus Neugier geöffnet und damit sind wir bei Carl Naughton, der in seinem Buch „Neugier“ auch die Geschichte von Pandora erzählt. Ist die Geschichte von Pandoras Büchse der Beweis dafür, daß Neugier negativ ist? Im Gegenteil! Neugier ist eine Lebenseinstellung, die uns viele Vorteile verschafft – wir lernen ohne externe Motivation, wir sind offen für neue Erfahrungen und Beziehungen, wir spüren den Drang, Unsicherheit aufzulösen, wir verändern Bekanntes und wir stellen Vorhandenes infrage. Wie schön, daß Menschen grundsätzlich neugierige Wesen sind. Allerdings begegnen uns oft „Neugierkiller“ – so zum Beispiel Achtlosigkeit, unser Bedürfnis nach Sicherheit und der Wunsch Unsicherheit, so schnell wie möglich loszuwerden. „Need for Closure“ nennt Carl Naughton das in seinem Buch und beschreibt, daß ein sehr hoher „Need for Closure“ sogar dazu führen kann, daß Menschen sich in ihrem Bedürfnis nach Klarheit und Uniformität autokratische Führer wünschen. Brauchen wir also mehr Neugier beziehungweise eine Kultur der Neugier in unserer Gesellschaft?

Für mich ist Neugier ein wichtiger positiver Wert – die Neugier, neue und unbekannte Orte zu entdecken (hier denke ich an Attilio Brilli), die Neugier auch im Bekannten Neues und Unbekanntes zu entdecken (ich denke an Alain de Botton), die Neugier Themen zu entdecken und zu verfolgen, die (noch) nicht machbar oder zeitgemäß erscheinen (so empfinde ich das Buch von Brigitte Hamann über Bertha von Suttner) und die Neugier, meine Sicht auf die Welt und meine Wahrnehmung immer wieder zu hinterfragen und damit sind wir bei den Autoren in diesem Beitrag.

In diesem Sinne wünsche ich Euch/Ihnen einen 3. Dezember voller wunderbarer Fragen und Entdeckungen und mit viel Offenheit für neue Begegnungen, Erfahrungen und Sichtweisen.

2. Dezember – B

Schon 2003 habe ich ein Buch von Brigitte Hamann gekauft – „Bertha von Suttner – Ein Leben für den Frieden“. Ich habe das Buch damals gelesen und lese es jetzt gerade wieder. Damals fand ich das Buch gut, die Person Bertha von Suttner interessant. Heute empfinde ich das Buch und das Nachdenken über die Arbeit und die Ansichten von Bertha von Suttner als wichtig und thematisch hoch aktuell. Es ist manchmal erstaunlich, wie wenig sich in den letzten 100 bis 120 Jahren verändert hat. Beispiel gefällig?

Wir reden in der heutigen Zeit immer wieder über eine gerechte Entlohnung für Kreative und über die Wege, wie man dies erreichen kann. Bertha von Suttner hat während ihres Lebens oft darunter gelitten, daß ihre Arbeit als Schriftstellerin nicht gerecht bezahlt wurde. Sie forderte daher frühzeitig (wohl schon 1886) eine gerechte Bezahlung für Autoren. Auch wenn manche Probleme von damals – zum Beispiel die fehlende Honorierung von Veröffentlichungen im Ausland oder von Übersetzungen – heute „erledigt“ sind, so ist das Thema „gerechte Bezahlung von Kreativen“ an sich immer noch aktuell.

Viel brisanter und aktueller erscheinen mir jedoch ihre Ansichten zum Antisemitismus der 1880er Jahre. Brigitte Hamann erwähnt in ihrem Buch folgenden Satz von Bertha von Suttner, der mich gerade angesichts der heutigen Situation betroffen macht: „Nichts ist leichter, als zu hetzen, nichts leichter, als bei ungebildeten Massen Haß und Mißtrauen zu wecken“. Bertha von Suttner empfand die Situation damals so, daß die Wortführer des Antisemitismus gerade nicht selbst „Hand anlegten“, sondern daß „ihr Wort das fanatische Hausen entfesselt und sich mit Wurfsteinen und Brandfackeln betätigt“. Erschreckend, nicht wahr?

Die Aussichten? Nach Bertha von Suttner „nationaler Fanatismus, Völkerhaß, Verfolgungs- und Verjagungswut: das sind alles die Elemente des Krieges.“

Vielleicht hat Stefan Zweig recht, der 1917 in einer Rede über Bertha von Suttner sagte (Nr. 636 im verlinkten Dokument) „Sie wußte ja selbst besser als jeder andere um die tiefe Tragik der Idee, die sie vertrat, um die fast vernichtende Tragik des Pazifismus, daß er nie zeitgemäß erscheint, im Frieden überflüssig, im Kriege wahnwitzig, im Frieden kraftlos und in der Kriegszeit hilflos.“

Ein schwer verdauliches Thema. Ich wünsche Euch/Ihnen daher umso mehr einen friedlichen und fröhlichen 2. Dezember!

1. Dezember – A

Attilio, Alain und Alison habe ich für diesen Tag ausgesucht – genauer Attilio Brilli mit seinem Buch „Als Reisen eine Kunst war“, Alain de Botton mit seinem Buch „Kunst des Reisens“ und Alison Kinney mit ihrem Buch „hood“.

Alle drei Bücher habe ich in Berlin entdeckt – auf einer Reise. Attilio Brilli und Alain de Botton fand ich nach meinem Besuch der Ausstellung „El Siglo de Oro“, Alison Kinney bei meinem (üblichen) Besuch in der Buchhandlung Dussmann. Zufällig gefunden und gekauft, verbindet diese Bücher und mein Empfinden des Jahres 2016 doch mehr als bloße Neugier und Leselust.

Wir reisen heute meistens mit einer gewissen Leichtigkeit und Schnelligkeit – auch wenn wir manchmal Sorgen und Ängste im Gepäck haben. Diese Leichtigkeit und Schnelligkeit ist einerseits sehr schön – das hat mir das Lesen von Attilio Brillis Buch sehr klar gemacht, andererseits nimmt sie uns vielleicht einen Teil des Reiseerlebnisses. Reisen war zur Zeit der „Grand Tour“ mühsam, teuer, anstrengend, unbequem und langwierig. Auf Strecken, die wir heute mit einem relativ kurzen Flug zurücklegen, waren Reisende damals oft Wochen unterwegs – Wind und Wetter (das ja auch im Sommer nicht immer nur gut ist) ausgesetzt. Attilio Brilli berichtet über übliche Reisewege, notwendige Vorbereitungen, Ausstattung und Garderobe, die Wirklichkeit „unterwegs“ und über die beginnende Reiseliteratur. Einerseits wirklich spannend, andererseits haben ich die Mühen des Reisens auf jeder Seite gespürt. Wie gut, daß wir heute leben!

Oder doch nicht? Alain de Botton stellt unsere Art des Reisens in Frage und plötzlich erscheint die Langsam- und Mühseligkeit der „Grand Tour“ von Attilio Brilli in einem anderen Licht. Was nehmen wir eigentlich wahr, wenn wir reisen? Inwieweit sind unsere Reisen durch unsere Erwartungen geprägt? Welche Bilder haben wir vor Augen – schon bevor wir abreisen? Alain de Botton vermengt seine eigenen Betrachtungen mit Beispielen aus Literatur, Kunst und Geschichte und erlaubt so faszinierende Einblicke und Gedanken. Was ich für mich aus diesem Buch mitgenommen habe: neugierig auf die kleinen Unterschiede und Besonderheiten „unterwegs“ zu achten.

Unterwegs ist das Stichwort, das mich zu Alison Kinney führt. Gerade im Winter ist das „Unterwegssein“ manchmal durchaus unangenehm. An Bushaltestellen und Bahnhöfen ist es oft kalt, das Warten auf (manchmal) verspätete Busse oder Züge fühlt sich dann besonders schlimm an. Gut, wenn man dann „passend“ bekleidet ist und zu passender Bekleidung gehört ziemlich oft eine „Kapuze“. Alison Kinney schildert in ihrem Buch die lange – durchaus auch unschöne und mit Gewalt verbundene – Geschichte der Kapuze. Nach der Lektüre des Buches hat die Kapuze jedenfalls ihre Harmlosigkeit verloren. Aber das muß nicht schlecht sein …..

In diesem Sinne wünsche ich Euch/Ihnen einen schönen ersten Dezember!