4. Dezember – The Idle Traveller (oder auch: Slow Travel Die Kunst des Reisens)

Wenn man sich die bisherigen Einträge anschaut, dann könnte man schnell auf die Idee kommen, daß mich in diesem Jahr nur „Problembücher“ bewegt haben. Weit gefehlt. Es gibt auch schöne Bücher, die mich bewegt haben – wobei „schön“ sich jetzt gar nicht auf die Gestaltung des Buches, sondern vor allem auf den Inhalt bezieht.

Ein wirklich schönes Buch ist „The Idle Traveller“ von Dan Kieran (die deutsche Ausgabe heißt „Slow Travel Die Kunst des Reisens„). Es ist ein Buch, das nicht nur fragt, wie wir eigentlich reisen, sondern sich auch damit befaßt, ob beziehungsweise wie wir unsere Umgebung erleben. Denn „Reise“ hat erst einmal nichts mit der Entfernung zu tun. Es geht mehr um den Aufbruch und das Entdecken. Das können wir überall erleben und ausprobieren – auch vor der eigenen Haustür. Dan Kieran beschreibt in seinem Buch einige seiner eigenen Reiseerlebnisse – aber er bezieht sich auf (literarische) Reiseberichte aus anderen Quellen und Zeiten. Nicht jede dieser Reisen wäre auch für mich ein gutes Erlebnis, aber das Nachdenken über den Aufbruch und die Neugier auf das Entdecken habe ich für mich mitgenommen.

3. Dezember – Adressat unbekannt

Kann ein kurzer Roman, der nur aus einem Briefwechsel besteht, spannend sein? Ja, das kann er – und wie! Das beweist der Roman „Adressat unbekannt“ von Kathrine Kressmann Taylor.

Der Deutsche Martin und der jüdische Amerikaner Max betreiben gemeinsam eine Kunstgalerie in San Francisco. 1932 entscheidet sich Martin, mit seiner Familie nach Deutschland zurückzukehren. Max und Martin schreiben sich nun. Die ersten Briefe sind Zeichen einer großen Freundschaft, denen weder die räumliche Distanz noch die unterschiedliche „Umgebung“ etwas anhaben kann. Doch der Ton ändert sich merklich. Als Max sich wegen seiner kleinen Schwester Grete, die in Deutschland Theater spielt, hilfesuchend an Martin wendet, erlebt er eine große Enttäuschung und Martin letztendlich eine große Überraschung.

In wenigen Briefen schildert die Autorin die Veränderungen der damaligen Zeit und gleichzeitig die Möglichkeiten, die der Einzelne – trotzdem – ergreifen kann. Kein „gutes“ Ende für die Beteiligten, aber definitiv ein gutes Buch!

2. Dezember – Wilde Schwäne

Vor knapp 10 Jahren habe ich das Buch „Wilde Schwäne“ von Jung Chang schon einmal gelesen. Einerseits hatte ich es als „gutes Buch“ in Erinnerung behalten, andererseits konnte ich mich an die konkrete Geschichte nicht mehr wirklich erinnern. Ein guter Grund, das Buch dieses Jahr noch einmal zu lesen, als es mir von ein paar Wochen beim Aufräumen in die Hände fiel.

Auf den ersten Blick erzählt „Wilde Schwäne“ die Geschichte einer Familie in China. Drei Frauen prägen die Geschichte dieser Familie – die Großmutter, die noch während der Kaiserzeit zur Welt gekommen ist und mit 15 Jahren (eingefädelt durch ihren Vater) die Konkubine eines Generals wird, die aus dieser Beziehung stammende Mutter, die sich den Kommunisten anschließt und schließlich die 1952 geborene Autorin selbst. Das Buch erzählt nicht nur eine Geschichte, es ist gleichzeitig eine Reise durch die Geschichte Chinas von 1909 bis 1978 – ein spannendes aber mir bisher wenig bekanntes Gebiet.

Auf den zweiten Blick (und das wurde mir beim zweiten Lesen erst richtig klar) erzählt das Buch eine Geschichte über menschliche Abgründe und über das (systematische) Ausnutzen menschlicher Schwächen und Fehler. Die gnadenlose Pflicht zur „Selbstkritik“, die oft eher in „Verrat“ umschlägt und die Angst der Menschen vor den negativen Folgen einer Handlung oder auch nur eines guten Wortes, hat mich bedrückt. Kann man in einer solchen Umgebung seinen eigenen Prinzipien treu bleiben? Kann man seelisch und körperlich überleben? Oder wird man irgendwann selbst zum Verräter – wenn nicht an anderen, dann doch an sich selbst? Es sind wichtige Fragen, die ich aus diesem Buch für mich mitnehme – Fragen, die mich sicherlich auch noch eine längere Zeit bewegen und beschäftigen werden. Deshalb ist das Buch „Wilde Schwäne“ ein Buch, das mich in diesem Jahr bewegt hat.

1. Dezember – Lenas Tagebuch

1. Dezember 2014
Kalt ist es heute am frühen Morgen. Ich bin froh, daß ich meine Handschuhe eingesteckt habe und auch nicht lange auf den (warmen) Bus warten muß. Ich bin aber auch ziemlich früh unterwegs. Schon um 5.30 Uhr bin ich an der Bushaltestelle. Eine für mich ungewöhnlich frühe Zeit – so früh, daß ich nicht einmal an ein Frühstück denken mag.

1. Dezember 1941
„Heute bin ich satt.“ schreibt die 17jährige Lena Muchina in ihr Tagebuch. Am 22. Mai 1941 hat sie ihr Tagebuch begonnen. Die Einträge aus den ersten Wochen schildern das völlig normale Leben einer 16jährigen. Es geht um Schule und Schulnoten, Freundschaft und Verliebtsein. Aber am 22. Juni 1941 ändert sich Lenas Leben drastisch. Deutschland überfällt an diesem Tag Russland und Lenas Berichte über ihr Leben in Leningrad greifen auch dieses Thema sofort auf. Anfänglich schildert sie vor allem die vielen Fliegeralarme, die Nachrichten und auch ihren Arbeitsdienst außerhalb von Leningrad. Aber mit dem beginnenden Herbst wird die Versorgungslage in Leningrad immer schwieriger und das Thema „Essen“ beziehungsweise „Hunger“ nimmt mehr und mehr Raum ein. An ihrem Geburtstag am 21. November 1941 fragt Lena „Wann werden wir wieder satt sein?“

1. Dezember 2014
Lenas Satz „Heute bin ich satt“ bewegt mich. Es ist ein Satz, den ich „so“ noch nie in meinem Leben geschrieben habe und mit diesem Gedanken verbinde ich viel Dankbarkeit. Wenn ich an „satt“ denke, dann eher an „pappsatt“ oder „ich habe das satt“ – aber nicht an das elementare und bohrende Gefühl von Hunger. Und dabei ist Lenas Eintrag vom 1. Dezember 1941 eigentlich erst der Anfang einer langen Leidenszeit – für die Leningrader Bevölkerung und eben auch für Lena und ihre Familie. Lenas Bericht ist ein Zeugnis dieser Zeit aus einer belagerten Stadt, geprägt von Hunger und Not, von Tod und Trauer, aber auch vom Überlebenswillen und gegenseitiger Unterstützung.

Lenas Tagebuch von Lena Muchina habe ich vor ein paar Tagen eher zufällig in einer Frankfurter Bahnhofsbuchhandlung entdeckt und sofort gelesen – für mich ein guter Fund und definitiv ein Buch, das mich in diesem Jahr bewegt hat!