Gardinen….

Im November hatte meine Mutter ein wichtiges Anliegen. Immer kurz vor der Adventszeit hat sie alle Gardinen im Haus der Reihe nach abgenommen, gewaschen und wieder aufgehangen. Das sollte ich in diesem Jahr erstmalig alleine übernehmen (natürlich unter ihrer kritischen Beobachtung). Als erstes habe ich mir eine vernünftige Leiter besorgt. Meine Mutter seufzte genervt, weil dadurch natürlich ein paar Tage verloren gingen, danach hatte ich eine Weiterbildungsveranstaltung und erst am 18.11. (meinem ersten „freien“ Samstag nach dem Leiterkauf) haben wir zugeschlagen. Ich arbeitend auf der Leiter, meine Mutter kommandierend….. Aber wir sind fertig geworden und sie war zufrieden, daß die Gardinen fertig waren – noch vor Beginn der Adventszeit. Es war der letzte „normale“ Samstag, den wir gemeinsam erlebt haben. Erst später habe ich verstanden, warum ihr das zeitlich so wichtig war…..

Berlin mit schlechtem Gewissen….

Das Leben ging weiter. Das klingt manchmal banal, aber es war auch letztes Jahr so. Und zum Leben gehört auch Weiterbildung. Wieder stand eine Tagung in Berlin an, wieder haben wir besprochen, ob das „geht“ und wieder bin ich gefahren. Allerdings habe ich meine Abwesenheit auf ein Mindestmaß beschränkt – Donnerstag am sehr frühen Morgen hin, Freitagnachmittag wieder zurück und natürlich das Essen vorkochen. Es war schwieriger als im September, aber auch diesmal ging es. Und es war gut, daß ich das machen konnte – es gab immer noch eine gewisse Normalität in meinem Leben trotz der Ausnahmesituation. Es war auch ein gutes Gefühl, daß meine Mutter nie etwas „ausgenutzt“ hat, sie hat nie etwas verlangt und vor allem hat sie nie um etwas gebeten, was sie selbst noch machen konnte. Gleichzeitig war sie unglaublich dankbar für alles, was ich gemacht habe (obwohl das überhaupt nicht notwendig war, ich habe alles, was ich gemacht habe, gerne gemacht).

Das vorgezogene Weihnachtsessen

Mir war im Oktober klar, daß es kein „normales“ gemeinsames Weihnachtsfest mehr geben würde. Nach Abbruch der Chemo konnte meine Mutter wieder relativ gut essen, andererseits wuchsen die Geschwülste und Ödeme. Ende Oktober und Anfang November gab es dann ausnahmsweise zwei Feiertage – den einmalig bundesweiten Reformationstag und Allerheiligen. Das war für mich der perfekte Moment, um mit meiner Mutter noch einmal gemeinsam das Feiertagsessen zu genießen – Gänsebrust, die bei niedriger Temperatur stundenlang im Ofen gart, dazu Endivien- und Kartoffelsalat. Meine Mutter fragte mich verwundert, ob ich mir das wirklich antun wolle (um die Gänsebrust zur Mittagszeit zu servieren, mußte ich immer sehr früh aufstehen) – aber ich war fest entschlossen und habe das gemacht. Es war schön, noch einmal gemeinsam ein festliches Essen zu genießen – gerade auch, weil ich wußte, daß es dafür die letzte Gelegenheit war. Es ist immer noch eine schöne Erinnerung und auch immer noch mein „Weihnachtsessen“ (nur halt in kleineren Portionen).

Jedes Tier bekommt einen Gnadenschuß!

Es war irgendwann im Oktober, daß meine Mutter mir gegenüber erstmalig diesen Satz äußerte. Es war ein Zeichen, daß es ihr richtig schlecht ging und ja, ich konnte diesen Satz verstehen und es tat mir weh, daß ich ihr so gar nicht helfen konnte. Ich weiß, daß sie sich so oder ähnlich im Herbst 2017 auch in einigen Telefonaten geäußert hat. Die Lebensqualität nahm täglich ab, die Einschränkungen und Beschwerden nahmen täglich zu und sie wußte (genau wie ich) wohin der Weg führen würde.
Dieses Wissen, daß jeden Tag die Beschwerden und Einschränkungen stärker werden, daß es keine (wenigstens zeitweise) Besserung mehr gibt, der Verlust all der Dinge, die sie gerne gemacht hat (Wandern und Essen standen immer ganz weit oben auf der Liste) – es war ein Abschied auf Raten mit gewissem Ausgang, der nur im Hinblick auf den Zeitpunkt und die damit verbundenen Beschwerden ungewiß war.
Ich fand die Frage, wie wir mit dem Tod und mit Menschen, die sich dem Tod nähern, umgehen vorher schon wichtig. Seit dieser Zeit habe ich aber arge Zweifel, ob wir (gerade angesichts von Themen wie „Pflegekrise“) wirklich die Würde der bald Sterbenden angemessen berücksichtigen und wahren.

Was trägst Du zur Beerdigung?

Es ist eine lustige Anekdote aus dem Jahr 2013, die untrennbar zu dieser Frage meiner Mutter gehört. Irgendwann nachdem meine Mutter die erste Behandlungsrunde erfolgreich abgeschlossen hatte, waren wir zusammen in Dortmund. Wir wollten gemeinsam nach einem schwarzen Hosenanzug für mich suchen. In einem größeren Geschäft flanierten wir durch die Abteilung und schauten uns die Auswahl sehr intensiv an. Eine Verkäuferin eilte herbei und wollte wissen, was wir suchen. „Einen schwarzen Hosenanzug für mich“ sagte ich, „zu welchem Anlaß“ fragte die Verkäuferin, „zu meiner Beerdigung“ antwortete meine Mutter trocken und wahrheitsgemäß. Die Verkäuferin mußte sehr schwer schlucken und wir haben uns noch Stunden später im Café bei Kaffee und Kuchen über diese Situation amüsiert.

Im Oktober 2018 ging es dann ernsthaft darum, nach einem schwarzen Hosenanzug zu schauen. Gemeinsam haben wir zwei Geschäfte in Wuppertal besucht, leider erfolglos und für Fahrten in andere Städte war meine Mutter schon zu schwach. Ich habe also alleine in den umliegenden Städten gesucht, aber erfolglos. Mal war der Hosenanzug zu eng und ich fühlte mich wie ein Würstchen in der Pelle, mal gefiel mir der Stoff nicht (ich wollte keine Kunstfaser). Irgendwann habe ich dann beschlossen, daß ich eine bereits vorhandene schwarze Hose nehme und mir nur noch schwarze Pullover/Strickjacken besorge. Die Idee gefiel meiner Mutter und nach einem Workshop in Köln habe ich also eingekauft und alles am Abend meiner Mutter vorgeführt. Es war ein schönes Gefühl, daß sie das noch gesehen hat und für mich bedeutete es viel weniger Zeitdruck, daß ich das schon zuhause hatte.

Ich habe von meiner Mutter aber (trotzdem) den „Auftrag“ bekommen, mit irgendwann einen schönen schwarzen Hosenanzug zu kaufen!

Schlechte Karten mit der Chemo

Die neue Chemo schien zwar zu helfen, aber die Nebenwirkungen waren heftig – zu heftig. Meine Mutter konnte die Übelkeit mit den üblichen MC-Tropfen überhaupt nicht in den Griff bekommen, auch zusätzliche Infusionen gegen die Übelkeit halfen nicht wirklich. Es half nichts, die Chemo konnte so nicht weitergeführt werden (sie hat auch keine weiteren Chemos mehr bekommen).
Mit dem Absetzen der Chemo verschwand die Übelkeit nach und nach, gleichzeitig konnte sich die Krankheit wieder „ungestört“ ausbreiten. Die Ödeme im Arm wurden stärker, sie bekam verstärkt Verspannungen im Nackenbereich und man konnte bei der Berührung ihrer Haut spüren, daß die Geschwülste langsam aber sicher den Hals hochwanderten.
Es war noch einmal ein deutlicher Schritt in Richtung „Ende“, daß es keine Chemo mehr gab – und meine Mutter vermutlich auch keine Chemo mehr gewollt hätte. Irgendwie hofft man ja doch immer noch – auf ein kleines Wunder, eine kleine Besserung, ein Bestehenbleiben der Lebensqualität. Aber manchmal ist der Preis zu hoch und das habe ich in diesen Tagen verstanden und gelernt!

Arbeit in schwierigen Zeiten

Am 20.09. durfte ich einen Workshop zu Social Media und Recht in einem Unternehmen durchführen. Ein schöner und spannender Auftrag, den ich angenommen hatte, als ich noch nicht ahnte, wie schnell sich das Befinden meiner Mutter verschlechtern würde. Meine Mutter hatte kurz vorher eine andere Chemo bekommen, es ging ihr etwas besser, sie konnte auch wieder besser sprechen. Trotzdem fühlte sich alles unglaublich schwierig an.
Wieder und wieder hing ich bei den Vorbereitungen fest, es fiel mir oft schwer mich zu konzentrieren und ich versuchte mehr und mehr soviel Zeit wie möglich mit meiner Mutter zu verbringen. Ich habe mir mit ihr zusammen sogar Rosamunde-Pilcher-Filme angeschaut – das war definitiv ihre Wahl, nicht meine. Auch bin ich relativ oft ein paar Schritte mit ihr gegangen, habe sie zur Lymphdrainage gebracht oder abgeholt oder irgendwelche Kleinigkeiten für sie erledigt. Alles sehr wichtig und in der Gesamtheit zeitintensiver als man denkt. Nach und nach habe ich meine eigenen (Freizeit-) Aktivitäten erst reduziert und dann fast völlig eingestellt. Sie hat das nie von mir verlangt und das war der Grund, warum ich es gut und gerne machen konnte. Ich hatte immer das Gefühl, daß es meine Entscheidung ist, mir Zeit für sie zu nehmen.
Mit zunehmendem Fortschreiten der Krankheit habe ich immer mehr Aufgaben übernommen. Alles kein Problem, aber manches war halt so zeitintensiv, daß ich immer weniger zum Arbeiten kam. Oft habe ich auch im Büro gesessen und geweint. Irgendwann habe ich mich nur noch um besonders wichtige Angelegenheiten gekümmert. Es war ein großes Glück, daß ich mit meinen Mandanten und Auftraggebern über die Situation sprechen konnte und daß diese mich wirklich unterstützt haben und viel Verständnis gezeigt haben. Dafür bin ich sehr dankbar.
Es ist unglaublich, wie schwer es einem fallen kann, selbst relativ einfache Dinge zu machen, wenn die Gedanken „woanders“ sind…..

Briefwahl

Trotz des schnellen Voranschreitens der Krankheit war meine Mutter immer noch sehr an allem, vor allem aber an politischen Themen, interessiert. So wollte sie natürlich auch unbedingt wählen. Normalerweise hätten wir einen netten Spaziergang zum Wahllokal gemacht, die Stimme abgegeben und wären nach einem weiteren Stück Spaziergang wieder nach Hause geschlendert. Dieses Jahr waren wir beide uns nicht sicher, ob sie den Weg zum Wahllokal schaffen würde; ich war mir nicht einmal sicher ob sie den Wahltag noch erleben würde. Also kam nur Briefwahl in Frage!
Sofort nach Erhalt der Wahlbenachrichtigung habe ich den Briefwahlantrag für sie vorbereitet, ziemlich schnell kamen die Unterlagen und meine Mutter bestand darauf, sie ziemlich schnell auszufüllen und abzuschicken. Gesagt, getan! Das Anreichen der jeweils richtigen Briefumschläge und der Gang zum Briefkasten waren mein Part und ich habe das gerne gemacht, weil es ihr wirklich wichtig war. Ich fand es erstaunlich, daß sie im Bewußtsein des nahenden Endes sich so sehr für die Gegenwart und die Zukunft interessiert hat.

Weine nicht…..

Am Montag, dem 11. September, hatte meine Mutter ihren ersten Lymphdrainagetermin bei einer Physiotherapiepraxis in der Nähe. Leider gab/gibt es keine gute Busverbindung dahin und meine Mutter wollte ohnehin lieber laufen. Weil sie aber sehr schwach war durfte ich sie begleiten und auch wieder abholen (zu Fuß, später habe ich das gelegentlich auch mit dem Auto gemacht). Mir schossen die Tränen in die Augen, als ich sah, wie schwach sie innerhalb weniger Tage geworden war. Sie merkte das, sah mich an und sagte „Weine nicht“. Das fiel mir in der Situation natürlich sehr schwer – aber ich habe mich bis zu ihrem Tod bemüht, nicht in ihrem Beisein zu weinen. Wenn ich die Tränen gar nicht zurückhalten konnte, bin ich kurz aus dem Zimmer gegangen, habe für mich alleine geweint und bin dann wieder zu ihr gegangen.
Die Lymphdrainage half ihr jedenfalls gegen die immer stärker zunehmenden Ödeme im rechten Arm, so konnte (zusammen mit dem Armstrumpf) relativ lange den Arm und die Hand noch normal nutzen.

Nach Heidelberg oder nicht?

Monate vorher hatte ich mich für die Teilnahme an einer Konferenz in Heidelberg angemeldet. Und plötzlich stand ich da und wußte nicht, ob ich fahren sollte oder nicht. Ich habe meine Mutter gefragt, was ihr lieber wäre. „Fahr“ hat sie gesagt und das ernst gemeint, denn es ging ihr immer noch relativ gut. Kurz vor meiner Reise haben wir noch gemeinsam die alte Spüle in der Küche abgebaut, die neue Spüle wurde an meinem Reisetag aufgebaut und angeschlossen. Dann habe ich vorgekocht (Bohnensuppe, die mochte meine Mutter sehr gerne) – weil meine Mutter das Kochen mittlerweile sehr anstrengend fand – und meine Sachen zusammengesucht. Als ich mich verabschiedet habe, kniete meine Mutter putzend vor beziehungsweise unter dem Sofa. Ich hatte bei dem Anblick keine Bedenken, sie alleine zu lassen.

Als wir am nächsten Morgen telefonierten, war ihre Stimme ziemlich schwach und das Sprechen strengte sie sehr an. Wir haben daher (das war ihr Wunsch) nur kurz telefoniert. Am nächsten Morgen war ihre Stimme noch schwächer. Es war schlimm. Trotzdem blieb ich (mit schlechtem Gewissen) in Heidelberg. Warum? Weil mir die Fortbildung wichtig war, weil sie nicht wollte, daß ich früher zurückkomme und weil ich ihr ohnehin nicht hätte helfen können.

Als ich am Sonntag gegen Abend nach Hause kam, war sie ziemlich schwach und konnte kaum sprechen. Die Veränderung von Mittwoch zu Sonntag war unglaublich. Vermutlich wäre mir das zuhause gar nicht so sehr aufgefallen….