Was trägst Du zur Beerdigung?

Es ist eine lustige Anekdote aus dem Jahr 2013, die untrennbar zu dieser Frage meiner Mutter gehört. Irgendwann nachdem meine Mutter die erste Behandlungsrunde erfolgreich abgeschlossen hatte, waren wir zusammen in Dortmund. Wir wollten gemeinsam nach einem schwarzen Hosenanzug für mich suchen. In einem größeren Geschäft flanierten wir durch die Abteilung und schauten uns die Auswahl sehr intensiv an. Eine Verkäuferin eilte herbei und wollte wissen, was wir suchen. „Einen schwarzen Hosenanzug für mich“ sagte ich, „zu welchem Anlaß“ fragte die Verkäuferin, „zu meiner Beerdigung“ antwortete meine Mutter trocken und wahrheitsgemäß. Die Verkäuferin mußte sehr schwer schlucken und wir haben uns noch Stunden später im Café bei Kaffee und Kuchen über diese Situation amüsiert.

Im Oktober 2018 ging es dann ernsthaft darum, nach einem schwarzen Hosenanzug zu schauen. Gemeinsam haben wir zwei Geschäfte in Wuppertal besucht, leider erfolglos und für Fahrten in andere Städte war meine Mutter schon zu schwach. Ich habe also alleine in den umliegenden Städten gesucht, aber erfolglos. Mal war der Hosenanzug zu eng und ich fühlte mich wie ein Würstchen in der Pelle, mal gefiel mir der Stoff nicht (ich wollte keine Kunstfaser). Irgendwann habe ich dann beschlossen, daß ich eine bereits vorhandene schwarze Hose nehme und mir nur noch schwarze Pullover/Strickjacken besorge. Die Idee gefiel meiner Mutter und nach einem Workshop in Köln habe ich also eingekauft und alles am Abend meiner Mutter vorgeführt. Es war ein schönes Gefühl, daß sie das noch gesehen hat und für mich bedeutete es viel weniger Zeitdruck, daß ich das schon zuhause hatte.

Ich habe von meiner Mutter aber (trotzdem) den „Auftrag“ bekommen, mit irgendwann einen schönen schwarzen Hosenanzug zu kaufen!

Schlechte Karten mit der Chemo

Die neue Chemo schien zwar zu helfen, aber die Nebenwirkungen waren heftig – zu heftig. Meine Mutter konnte die Übelkeit mit den üblichen MC-Tropfen überhaupt nicht in den Griff bekommen, auch zusätzliche Infusionen gegen die Übelkeit halfen nicht wirklich. Es half nichts, die Chemo konnte so nicht weitergeführt werden (sie hat auch keine weiteren Chemos mehr bekommen).
Mit dem Absetzen der Chemo verschwand die Übelkeit nach und nach, gleichzeitig konnte sich die Krankheit wieder „ungestört“ ausbreiten. Die Ödeme im Arm wurden stärker, sie bekam verstärkt Verspannungen im Nackenbereich und man konnte bei der Berührung ihrer Haut spüren, daß die Geschwülste langsam aber sicher den Hals hochwanderten.
Es war noch einmal ein deutlicher Schritt in Richtung „Ende“, daß es keine Chemo mehr gab – und meine Mutter vermutlich auch keine Chemo mehr gewollt hätte. Irgendwie hofft man ja doch immer noch – auf ein kleines Wunder, eine kleine Besserung, ein Bestehenbleiben der Lebensqualität. Aber manchmal ist der Preis zu hoch und das habe ich in diesen Tagen verstanden und gelernt!

Arbeit in schwierigen Zeiten

Am 20.09. durfte ich einen Workshop zu Social Media und Recht in einem Unternehmen durchführen. Ein schöner und spannender Auftrag, den ich angenommen hatte, als ich noch nicht ahnte, wie schnell sich das Befinden meiner Mutter verschlechtern würde. Meine Mutter hatte kurz vorher eine andere Chemo bekommen, es ging ihr etwas besser, sie konnte auch wieder besser sprechen. Trotzdem fühlte sich alles unglaublich schwierig an.
Wieder und wieder hing ich bei den Vorbereitungen fest, es fiel mir oft schwer mich zu konzentrieren und ich versuchte mehr und mehr soviel Zeit wie möglich mit meiner Mutter zu verbringen. Ich habe mir mit ihr zusammen sogar Rosamunde-Pilcher-Filme angeschaut – das war definitiv ihre Wahl, nicht meine. Auch bin ich relativ oft ein paar Schritte mit ihr gegangen, habe sie zur Lymphdrainage gebracht oder abgeholt oder irgendwelche Kleinigkeiten für sie erledigt. Alles sehr wichtig und in der Gesamtheit zeitintensiver als man denkt. Nach und nach habe ich meine eigenen (Freizeit-) Aktivitäten erst reduziert und dann fast völlig eingestellt. Sie hat das nie von mir verlangt und das war der Grund, warum ich es gut und gerne machen konnte. Ich hatte immer das Gefühl, daß es meine Entscheidung ist, mir Zeit für sie zu nehmen.
Mit zunehmendem Fortschreiten der Krankheit habe ich immer mehr Aufgaben übernommen. Alles kein Problem, aber manches war halt so zeitintensiv, daß ich immer weniger zum Arbeiten kam. Oft habe ich auch im Büro gesessen und geweint. Irgendwann habe ich mich nur noch um besonders wichtige Angelegenheiten gekümmert. Es war ein großes Glück, daß ich mit meinen Mandanten und Auftraggebern über die Situation sprechen konnte und daß diese mich wirklich unterstützt haben und viel Verständnis gezeigt haben. Dafür bin ich sehr dankbar.
Es ist unglaublich, wie schwer es einem fallen kann, selbst relativ einfache Dinge zu machen, wenn die Gedanken „woanders“ sind…..

Briefwahl

Trotz des schnellen Voranschreitens der Krankheit war meine Mutter immer noch sehr an allem, vor allem aber an politischen Themen, interessiert. So wollte sie natürlich auch unbedingt wählen. Normalerweise hätten wir einen netten Spaziergang zum Wahllokal gemacht, die Stimme abgegeben und wären nach einem weiteren Stück Spaziergang wieder nach Hause geschlendert. Dieses Jahr waren wir beide uns nicht sicher, ob sie den Weg zum Wahllokal schaffen würde; ich war mir nicht einmal sicher ob sie den Wahltag noch erleben würde. Also kam nur Briefwahl in Frage!
Sofort nach Erhalt der Wahlbenachrichtigung habe ich den Briefwahlantrag für sie vorbereitet, ziemlich schnell kamen die Unterlagen und meine Mutter bestand darauf, sie ziemlich schnell auszufüllen und abzuschicken. Gesagt, getan! Das Anreichen der jeweils richtigen Briefumschläge und der Gang zum Briefkasten waren mein Part und ich habe das gerne gemacht, weil es ihr wirklich wichtig war. Ich fand es erstaunlich, daß sie im Bewußtsein des nahenden Endes sich so sehr für die Gegenwart und die Zukunft interessiert hat.

Weine nicht…..

Am Montag, dem 11. September, hatte meine Mutter ihren ersten Lymphdrainagetermin bei einer Physiotherapiepraxis in der Nähe. Leider gab/gibt es keine gute Busverbindung dahin und meine Mutter wollte ohnehin lieber laufen. Weil sie aber sehr schwach war durfte ich sie begleiten und auch wieder abholen (zu Fuß, später habe ich das gelegentlich auch mit dem Auto gemacht). Mir schossen die Tränen in die Augen, als ich sah, wie schwach sie innerhalb weniger Tage geworden war. Sie merkte das, sah mich an und sagte „Weine nicht“. Das fiel mir in der Situation natürlich sehr schwer – aber ich habe mich bis zu ihrem Tod bemüht, nicht in ihrem Beisein zu weinen. Wenn ich die Tränen gar nicht zurückhalten konnte, bin ich kurz aus dem Zimmer gegangen, habe für mich alleine geweint und bin dann wieder zu ihr gegangen.
Die Lymphdrainage half ihr jedenfalls gegen die immer stärker zunehmenden Ödeme im rechten Arm, so konnte (zusammen mit dem Armstrumpf) relativ lange den Arm und die Hand noch normal nutzen.

Nach Heidelberg oder nicht?

Monate vorher hatte ich mich für die Teilnahme an einer Konferenz in Heidelberg angemeldet. Und plötzlich stand ich da und wußte nicht, ob ich fahren sollte oder nicht. Ich habe meine Mutter gefragt, was ihr lieber wäre. „Fahr“ hat sie gesagt und das ernst gemeint, denn es ging ihr immer noch relativ gut. Kurz vor meiner Reise haben wir noch gemeinsam die alte Spüle in der Küche abgebaut, die neue Spüle wurde an meinem Reisetag aufgebaut und angeschlossen. Dann habe ich vorgekocht (Bohnensuppe, die mochte meine Mutter sehr gerne) – weil meine Mutter das Kochen mittlerweile sehr anstrengend fand – und meine Sachen zusammengesucht. Als ich mich verabschiedet habe, kniete meine Mutter putzend vor beziehungsweise unter dem Sofa. Ich hatte bei dem Anblick keine Bedenken, sie alleine zu lassen.

Als wir am nächsten Morgen telefonierten, war ihre Stimme ziemlich schwach und das Sprechen strengte sie sehr an. Wir haben daher (das war ihr Wunsch) nur kurz telefoniert. Am nächsten Morgen war ihre Stimme noch schwächer. Es war schlimm. Trotzdem blieb ich (mit schlechtem Gewissen) in Heidelberg. Warum? Weil mir die Fortbildung wichtig war, weil sie nicht wollte, daß ich früher zurückkomme und weil ich ihr ohnehin nicht hätte helfen können.

Als ich am Sonntag gegen Abend nach Hause kam, war sie ziemlich schwach und konnte kaum sprechen. Die Veränderung von Mittwoch zu Sonntag war unglaublich. Vermutlich wäre mir das zuhause gar nicht so sehr aufgefallen….

Letzte Ausflüge – 02.09.2017 und 03.09.2017

Meine Mutter ist immer gerne Auto gefahren – also mitgefahren als Beifahrerin. Mit dem Auto irgendwohin zu fahren, war für sie immer ein großes Vergnügen, während ich in den letzten Jahren eher ungern gefahren bin. Aber Anfang September 2017 haben wir an dem Wochenende noch einmal zwei schöne Fahrten gemacht.

An dem Samstag sind wir in ein Gartencenter gefahren und haben irrsinnig viele Blumenzwiebeln gekauft. Irrsinnig viele – weil ich mich nicht entscheiden konnte und einfach alles genommen habe, was mir gefiel. Meine Mutter stand – wie immer – kopfschüttelnd daneben. Während ich später Einkaufen war, hat sie allerdings fast alle Blumenzwiebeln eingepflanzt und als ich im Frühjahr aus dem Fenster schaute konnte ich mich immer an diesen Moment erinnern, als ich vom Einkaufen wiederkam und meine Mutter auf dem Rasen kniete und die Blumenzwiebeln einpflanzte. Es war schön, in diesem Frühling die vielen Krokusse, Tulpen und Osterglocken zu sehen, die meine Mutter an diesem 2. September noch eingepflanzt hat. Eine sehr schöne Erinnerung!

Am Sonntag (03.09.2017) haben wir dann nach dem Mittagessen noch mal einen richtigen Ausflug gemacht. Wir sind in die Elfringhauser Schweiz gefahren und den Höhenweg entlanggewandert. Nicht so weit, wie in früheren Zeiten, aber doch ein ganzes Stück. Und anschließend waren wir noch einmal Kaffee trinken und zwar in dem Café (Café Bärwinkel) in dem ich vor vielen Jahren meine Konfirmation feiern durfte. Es war sehr voll und wir saßen nicht lange alleine am Tisch. Zwei Motorradfahrer haben sich zu uns gesetzt und meine Mutter hat – wie immer – sofort auch mit ihnen ein Gespräch begonnen. Darin war sie unschlagbar, ganz im Gegensatz zu mir.
Es war unser letztes gemeinsames Kaffeetrinken in einem Café und ich erinnere mich sehr gerne daran. Es war noch einmal ein richtig unbeschwerter Nachmittag und ich bin froh, daß ich mir die Zeit genommen habe, mit meiner Mutter diesen kleinen Ausflug zu machen. Zeit war das, was ich ihr zu diesem Zeitpunkt am besten schenken konnte und das habe ich getan!

Der schleichende Verfall – 31.08.2017

Der Monat August zog dahin. Ich las meine Bücher über das Sterben und die palliative Medizin. Immer mal wieder weinte ich, wenn ich allein war – nur der Bürocomputer war der Zeuge meiner Tränen. Es war dieses Wissen, daß der Abschied naht – ohne zu wissen wann und wie.

Es war nicht alles schlecht in dieser Zeit. Im Gegenteil! Aber es war auch keine einfache Zeit. Täglich wurde meine Mutter ein bißchen schwächer, mit jedem Tag nahmen ihren Möglichkeiten ab. Zu Pfingsten waren wir noch von der Düsseldorfer Innenstadt nach Kaiserswerth gewandert – eine wunderschöne Strecke am Rhein entlang. Im August war an so etwas nicht mehr zu denken. Wir machten einen Spaziergang Richtung Neviges, den wir nach der Hälfte (am Bahnhof Rosenhügel) abgebrochen haben, weil es ihr zuviel wurde.

Es war auch die Zeit kurz vor der Bundestagswahl. Wählen war meiner Mutter immer sehr wichtig. Meistens sind wir gemeinsam zum Wahllokal gegangen. Aber in diesem Jahr? Was, wenn sie vor der Wahl sterben würde? Es mag unsinnig anmuten, daß ich in der Situation über solche Fragen nachgedacht habe. Aber vor einem Jahr war mir das wichtig – unglaublich wichtig. Natürlich haben wir dann Briefwahlunterlagen beantragt.

Ende August zeigten sich auch neue Beschwerden. Der rechte Arm fing an anzuschwellen, der Beginn eines Lymphödems. Mit ein paar Übungen ließ sich dies sogar in den Griff bekommen und so habe ich dann ganz kurzfristig beschlossen, zur Netzpolitikkonferenz in Berlin zu fahren (am 01.09.2017).

Es war eine Zeit, in der das Wegesende zwar schon erkennbar war, die Bewegung dahin aber so langsam war, daß man sie kaum wahrnehmen konnte. Eine Zeit des schleichenden Verfalls. Und damit auch eine Zeit, mich auf das vorzubereiten, was da noch kommen würde……

Nachtgedanken…..

Ich bin gerade ein paar Tage in Wittenberg, der Lutherstadt in Sachsen-Anhalt. Gestern war die sogenannte Erlebnisnacht. Aus meiner Sicht ein Zufall, denn mir war das bei der Buchung nicht bewußt. Ich habe gestern einige spannende „Events“ im Rahmen dieser Erlebnisnacht besucht, mein absoluter Höhepunkt war die (ganz unscheinbar im Programmhefte vermerkte) Nachtführung in der Stadtkirche.

Ich habe in meinem Leben schon viele Kirchen besucht oder besichtigt. Mit oder ohne Führung, allein oder mit anderen, aus kulturellen Gründen aber auch zum (einsamen) Orgelüben. Ich habe einen „netten Rundgang“ durch die Kirche erwartet, aber es kam anders, ganz anders.
Kurz vor der festgelegten Zeit (23.30 Uhr) waren schon einige Leute in den hinteren Bänken der Kirche verteilt. Auch ich habe mich dort hingesetzt, auf meinem Tablet ein paar Tweets gelesen und gewartet. Um 23.30 Uhr bat uns ein etwas älterer Mann in die vorderen Reihen. Technisch etwas ungelenk und langsam begann er alle Lichter in der Kirche (bis auf einen Raum, in dem sich die Künstler des Abends noch umzogen) auszumachen. Während nach und nach Licht für Licht erlosch, sprach er davon, daß man das Helle nur vor dem Dunklen sehen kann. Und plötzlich war es (bis auf das Licht aus dem kleinen Nebenraum, das durch eine Glastür fiel) stockdunkel. Ein faszinierender Moment. Ich habe noch nie während einer Führung in einer stockdunklen Kirche gesessen und mich so sehr auf die Stimme, die Worte und den Raum an sich konzentriert. Ja, genau das betonte unser Kirchenführer auch. Ganz langsam machte er dann im ältesten Teil der Kirche etwas Licht an (alles mit einem Tablet in seiner Hand) und zeichnete mit immer mehr Licht die Baugeschichte der Kirche nach.

Das Licht ging wieder aus und kurz danach war der wunderbare Cranach-Altar beleuchtet. Man muß sich das vorstellen: die Kirche liegt in fast völliger Dunkelheit, nur der Cranach-Altar ist beleuchtet und leuchtet mit seinen wunderbaren Farben.

Das Licht ging wieder aus und ich hörte unseren Kirchenführer im Dunklen zur linken Seite der Kirche gehen. Plötzlich erleuchtete ein Scheinwerfer von unten ein Menschenantlitz hoch oben auf einer Säule – der Mensch, der manchmal dem Schlimmen und Bösen gegenübersteht und Trost sucht (wo auch immer, nicht notwendigerweise in der Kirche). Und plötzlich richtete sich der Scheinwerfer auf die Säule auf der gegenüberliegenden Seite. Genau gegenüber dem Menschenantlitz hing dort eine Fratze – das Sinnbild des Bösen oder Schlimmen. Wenn der Mensch, dem es nicht gut geht, seinen Blick auf das Schlimme oder Böse fokussiert (liegt ja genau gegenüber), dann kann er keinen Trost finden. Der Trost (in diesem Moment sinnbildlich durch den Altar vertreten) liegt gerade nicht im Fokus des Menschen. Licht aus. Aber am tiefsten Punkt der Nacht beginnt der neue Tag.

Das Licht ging wieder an, die knapp halbstündige Führung war vorbei. Bei mir hat diese Art der Führung ein Gänsehautgefühl hinterlassen. Ich war unglaublich beeindruckt von der Atmosphäre und vom Spiel mit Licht und Dunkel in Verbindung mit sehr passenden Worten.

Wissen – am 08.08.2017

Wann geht Ahnung in Wissen über? Wann wird aus dem Hin- und Herschwanken zwischen Hoffnung und Angst traurige Gewißheit?

Für mich war der 08.08.2017 der Tag dieser Gewißheit. Die „Einschläge“ waren vorher immer näher gekommen. Stark vergrößerte Lymphknoten am Hals, eine neue Chemo mit neuen Nebenwirkungen und einem Schlaf, der nicht mehr erholsam war, ein stark verkleinertes Auge, weil die Lymphknoten sich hier schon auswirkten. Schon am 4. August hatte ich mir Bücher zum Thema Sterbebegleitung bestellt. Ich wollte vorbereitet sein auf das, was da irgendwann kommen würde. H. Müller-Busch und Gian Domenico Borasio wurden meine heimlichen Begleiter. Heimlich, weil ich mich erst einmal mit diesem Thema allein auseinandersetzen wollte, nicht weil ich mit meiner Mutter nicht darüber sprechen konnte.

Irgendwie war immer noch Hoffnung da. Hoffnung, daß die neue Chemo doch noch wirkt, daß es noch einmal eine Verbesserung gibt, Hoffnung auf ein kleines Wunder. Ja, was wäre der Mensch ohne Hoffnung?

Doch manchmal sind es ganz unscheinbare und völlig unabhängige „Zeichen“, die uns Gewißheit geben – selbst da, wo uns die Gewißheit weh tut….. Es war der Blick auf die Augustausgabe der Zeitschrift „brand eins“ mit dem Schwerpunkt „Loslassen„, die mir diese Gewißheit gab. Ich las den Titel und ich wußte sofort, was mein „Loslassen“ war. Es war ein sehr deutlicher Moment des Bewußtwerdens. Kein leichter Moment, weiß Gott nicht. Und in der Erinnerung an diesen Moment rinnen mir noch einmal die Tränen über das Gesicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie oft ich in dieser Zeit weinend an meinem Schreibtisch saß, wieviele Gespräche ich unter Tränen geführt habe, wie oft ich die Tränen vor meiner Mutter nur mühsam zurückhalten konnte.
Trotzdem möchte ich diesen Moment nicht missen. Es war traurig und schwer, diesen Moment zu erleben. Es war schön und richtig, meine Mutter auf dem Weg zum Tod begleiten zu können. Das Wissen, daß der Tod „vor der Tür steht“ und die frühzeitigen Tränen haben mir die Kraft gegeben, für meine Mutter bis zum letzten Moment da zu sein, die schönen Momente zu genießen und die traurigen Momente zu tragen. Dafür bin ich sehr dankbar. Und deswegen ist der 08.08. – bei aller Traurigkeit der Erinnerung – auch ein guter Tag!